Meinungsbildung in turbulenten Zeiten

16. Mai 2025
Studie: Rund ein Drittel der Bevölkerung zeigt Abkopplungstendenzen vom politischen Diskurs

Politische Meinungen entstehen nicht allein auf Basis von Fakten oder Medienkonsum. Auch Emotionen wie innere Spannungen oder Unsicherheiten und der Wunsch nach Orientierung spielen dabei eine Rolle. Das zeigt eine neue Studie der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) in Zusammenarbeit mit dem rheingold Institut und der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Ihr Fazit: Damit alle Menschen am öffentlichen Diskurs teilnehmen können, müssen in der Informationsvermittlung unterschiedliche Bedürfnisse bedient werden. Um hier gezielt ansetzen zu können, hat die Studie sechs psychologische Typen der Meinungsbildung identifiziert.

Die gute Nachricht: Die Mehrheit der Bevölkerung ist fest im demokratischen Diskurs verankert - sie informiert sich aktiv, reflektiert unterschiedliche Positionen und bleibt anschlussfähig. Gleichzeitig zeigt sich aber: 35 Prozent der Menschen drohen den Kontakt zu verlieren, aus Überforderung, selektiver Mediennutzung oder gezielter Abgrenzung. Besonders betroffen: Meinungsmitläufer, die Politik meiden und dennoch extreme Haltungen äußern, sowie "Empörte", die gezielt nach Bestätigung ihrer Wut suchen - oft außerhalb klassischer Medien. Zur vollständigen Studie sowie zur Typologie der sechs Meinungsbildungsmuster geht es hier.

BLM-Präsident Dr. Thorsten Schmiege: "Jeder Mensch hat - je nach Typ - ein eigenes Muster der Informationsnutzung. Die sechs Meinungsbildungstypen helfen Medien, ihre Zielgruppen alltagsnäher und psychologisch klug anzusprechen - mit klarer Sprache, alltagsnahen Formaten und glaubwürdigen Akteuren. Denn wenn das nicht mehr gelingt, haben wir nicht nur ein Kommunikationsproblem, sondern ein Demokratieproblem."

Key Facts

  • Ziel der Studie war es, unterschiedliche Typen der politischen Meinungsbildung in Deutschland zu identifizieren, quantitativ zu verorten und ihre Anbindung an den demokratischen Diskurs zu bewerten.
  • Auf Basis einer qualitativ-psychologischen Vorstudie und einer repräsentativen Befragung wurden sechs Meinungsbildungstypen gebildet, differenziert nach dem Grad ihrer systematischen Informationsverarbeitung und subjektiven Meinungsstärke. Dabei zeigt sich:

− Rund zwei Drittel der Bevölkerung sind grundsätzlich an den politischen Diskurs angebunden und weisen ein Mindestmaß an Informationsinteresse und Anschlussfähigkeit auf.

 − Rund ein Drittel der Bevölkerung zeigt Abkopplungstendenzen.

Besonders vulnerabel sind dabei die drei Typen „Ängstliche Selbststabilisierer“, „Eskapistische Meinungsmitläufer“ und „Empörte Meinungsanhänger“. Sie zeichnen sich durch geringe Informationskompetenz, selektives oder emotionalisiertes Nutzungsverhalten und ein in der Tendenz und in Teilen im Vergleich etwas geringeres Vertrauen in klassische Medien aus. Während die Ängstlichen aus Überforderung zurückweichen, meiden Eskapisten mangels Interesse und persönlicher Relevanz. Empörte suchen bestätigende Inhalte in vertrauten Meinungsräumen. Alle drei Gruppen sind nicht ausreichend durch faktenbasierte, vielfältige Informationen geschützt und daher tendenziell anfälliger für einfache Botschaften und Manipulation.

 − Die Anbindung dieser Gruppen an die politische Öffentlichkeit ist aber in Teilen (noch) gegeben und kann gestärkt werden.

− Ein Großteil von ihnen ist (noch) durch klassische Medien erreichbar, Ansätze zur Wieder-Anbindung müssen darüber hinaus aber auch andere Kanäle und Akteure (insbesondere Social Media, Multiplikatoren, denen sie vertrauen) berücksichtigen.

 − Unabhängig vom Info-Touchpoint müssten Art der Absprache und Formate auf die spezifischen Bedürfnisse abgestimmt werden.

Ängstliche benötigen vermutlich Sicherheit, Orientierung und vertrauensvolle Personen statt abstrakter Information. Eskapisten erreicht man eventuell besser über niedrigschwellige, alltagsnahe Formate in einfacher Sprache, möglichst unterhaltend verpackt. Mit Blick auf die Empörten ist zu prüfen, wie Räume für einen respektvollen Dialog geschaffen werden können, die ohne Konfrontation unterschiedliche Perspektiven zulassen.

− Entscheidend für alle: verständliche Sprache, emotionale Anschlussfähigkeit und konkrete, persönliche Relevanz.

Was sagen uns die Meinungsbildungstypen? Mögliche Ansätze für eine (Wieder-)Anbindung vulnerabler Gruppen an den politischen Diskurs Die Studie legt Schlüsse nahe, die sich aus der Analyse der Ergebnisse der quantitativen Befragung und qualitativen Vorstudie ableiten lassen. Sie stellen keine direkten Befunde dar, sondern interpretative Schlussfolgerungen, die in der Gesamtschau dazu dienen, praxisnahe Strategien zur Anbindung vulnerabler Gruppen an den politischen Diskurs zu entwickeln.

Die Rückbindung vulnerabler Gruppen an politische Diskurse erscheint grundsätzlich möglich – jedoch nicht über klassische Informationswege allein. Vielmehr braucht es gezielte Kommunikationsstrategien, die auf die Informationsbedürfnisse und -gewohnheiten sowie auf die emotionale Haltung dieser Gruppen abgestimmt sind.

  • Ängstliche Selbststabilisierer benötigen Sicherheit statt Komplexität. Um sie zu erreichen, sind kompakte, verständliche Formate hilfreich. Lokale, vertrauenswürdige

Informationsquellen könnten eine stabilisierende Funktion übernehmen, alltagsnahe Themen und praktische Informationen beruhigend wirken. Personen mit hoher Glaubwürdigkeit –insbesondere fachliche Experten– könnten als vertrauensstiftende Vermittler dienen.

  • Eskapistische Meinungsmitläufer müssen im Alltag abgeholt werden. Für sie könnten kurze, niedrigschwellige Formate funktionieren, idealerweise unterhaltend

verpackt. Die Inhalte sollten visuell und in einfacher Sprache gestaltet sein. Politische Themen könnten dabei indirekt, über Alltagsbezüge und humorvolle Erzählformen vermittelt werden. Informelle Räume wie Messenger-Gruppen oder nachbarschaftliche Chats könnten zusätzliche Zugänge bieten.

  • Empörte Meinungsanhänger brauchen Räume für echten Dialog. Formate, die unterschiedliche relevante Positionen gleichwertig nebeneinanderstellen, können helfen, Denkprozesse anzustoßen. Persönlich bekannte Multiplikatoren, auch Influencer mit Reflexionskompetenz, könnten als Brückenbauer wirken.

Wichtig ist dabei, die zugrunde liegende Wut ernst zu nehmen und in produktive Bahnen zu lenken. Was alle drei Gruppen brauchen: verständliche, statt komplizierter Sprache, respektvolle Ansprache statt Abwertung, lebensnahe Inhalte statt abstrakter Politik, Vertrauen durch Menschen statt Institutionen, Begleitung gegen Überforderung. Die Rückgewinnung abgekoppelter Gruppen gelingt nicht durch mehr Information, sondern durch mehr Verbindung. Es geht darum, den Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe wieder zu öffnen.

Fazit

  • Die Studie zeigt: Politische Meinungsbildung in Deutschland ist vielfältig, sie ist aber nicht für alle gleichermaßen stabil, reflektiert oder anschlussfähig. Zwar ist die Mehrheit der Bevölkerung an den demokratischen Diskurs angebunden, doch etwa ein Drittel weist teilweise Abkopplungstendenzen auf. Besonders bei diesen vulnerablen Gruppen fehlen belastbare Schutzmechanismen gegen Polarisierung und populistische Vereinfachung.
  • Meinungsbildung ist dabei weniger eine Frage von reiner Informationsverfügbarkeit, sondern eine der emotionalen und sozialen Einbettung: Menschen wenden sich nur dann politischen Inhalten zu, wenn diese zu ihren Lebensrealitäten, Bedürfnissen und Wahrnehmungsmustern passen. Mediale Informationsnutzung dient vielfältigen Bedürfnissen, u.a. auch der Selbstvergewisserung, Entlastung oder Bestätigung.
  • Die demokratische Herausforderung besteht deshalb nicht allein darin, mehr Information zu liefern, sondern über (einfache) Sprache, angemessene Formate, spezifische Aufbereitung der Inhalte und vor allem über Vertrauen eine Verbindung herzustellen. Wer den Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe offenhalten will, muss Medienangebote schaffen, die nicht nur informieren, sondern auch erreichen – lebensnah, verständlich und respektvoll.
Zur Übersicht