TikTok als Haupt-Informationsquelle

01. November 2023
Was gering informationsorientierte junge Menschen von Nachrichtenangeboten erwarten, hat das Leibniz-Institut für Medienforschung in Hamburg untersucht

Immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene finden ihre Interessen und Anliegen in den klassischen Nachrichtenmedien nicht wieder. Sie haben nur ein geringes Interesse am aktuellen Weltgeschehen, nutzen kaum Informationsangebote etablierter Medien und werden daher mit journalistischen Angeboten kaum noch erreicht. Sie machen etwa ein Drittel der 14- bis 24-Jährigen aus (Jugendliche im Alter von 14-17 Jahren: 45%, junge Erwachsene im Alter von 18-24 Jahren: 22%). Stattdessen spielen Angebote in Sozialen Medien eine wichtige Rolle für diese Gruppe junger Menschen. Sie bleiben fast ausschließlich über beiläufige Informationskontakte bei TikTok und YouTube auf dem Laufenden, bevorzugen unterhaltende Inhalte und verfolgen dabei individuelle Interessen, über die sie auch im Freundeskreis sprechen. Wie ihre Informationsbedürfnisse, Nutzungspraktiken und Einstellungen aussehen, hat das Leibniz-Institut für Medienforschung in Hamburg in Gesprächsrunden mit jungen Menschen im Alter von 14 bis 22 Jahren erforscht, die sich kaum für aktuelle Informationen interessieren und mit journalistischen Angeboten nicht erreicht werden: die gering Informationsorientierten.

Zusammenfassung und Fazit

Unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen gibt es eine zunehmend große Gruppe, die ein geringes Interesse am aktuellen Weltgeschehen hat, kaum Informationsangebote etablierter Medien nutzt und mit journalistischen Angeboten entsprechend kaum noch erreicht werden kann: die gering Informationsorientierten (GIO). Junge Menschen, die sich diesem Informationstyp zuordnen lassen, haben in der Regel eine niedrige formale Bildung und oft einen Migrationshintergrund. Da bislang allerdings wenige, vor allem keine qualitativen, Befunde dazu vorliegen, was diese jungen Menschen – neben soziodemografischen Merkmalen – auszeichnet, bestand das Ziel der vorliegenden Studie darin, ihre Informationsbedürfnisse, Nutzungspraktiken und Einstellungen genauer zu beleuchten.

Informationsbedürfnisse: Gering Informationsorientierte haben ein gering ausgeprägtes Bedürfnis, umfassend informiert zu sein. Informationen werden beiläufig, passiv und nahezu exklusiv im Kontext der Nutzung sozialer Medien aufgenommen. Das hängt auch damit zusammen, dass GIO überwiegend in Gruppen unterwegs sind, in denen zwar unterschiedliche Meinungen zu einem Thema wertgeschätzt werden, die Beschäftigung mit und Diskussion über vor allem politische Themen aber nur eine sehr geringe Rolle spielen. Gleichwohl gibt es gesellschaftliche Themen, wie beispielsweise Diskriminierung, soziale Gerechtigkeit oder Gleichberechtigung, welche die jungen Menschen beschäftigen und in der Freundesgruppe besprochen werden. Ausschlaggebend sind dabei persönliche Berührungspunkte; maßgeblich ist, dass die Themen die eigene Person und Identität (Religion, Herkunft) oder das engste Familien- und Freundesumfeld betreffen.

Nutzungspraktiken: Passend zum gering ausgeprägten Bedürfnis, sich zu informieren, und dem hohen Stellenwert von unterhaltenden Inhalten, die den persönlichen Interessen entsprechen, werden gruppenübergreifend TikTok, Instagram, YouTube – und für eine aktive Suche ebenfalls Google – als Informationsquellen angegeben. Dieses schmale Informationsrepertoire, zu dem kaum journalistische Angebote zählen und auch nicht ergänzend hinzugezogen werden, bestätigt bereits vorliegende Erkenntnisse zur Informationsnutzung von GIO (vgl. Hasebrink et al. 2021). Insgesamt schätzen die Befragten neben der Aktualität insbesondere die – im Gegensatz zu etablierten Nachrichtenangeboten – kurzen und unterhaltenden Inhalte auf TikTok sowie die dort angebotenen unterschiedlichen Perspektiven, die als Grundlage für die eigene Meinungsbildung gewertet werden. Diese geäußerten Vorteile und Darstellungspräferenzen entsprechen zum einen den über audiovisuelle Plattformen kultivierten Konsumgewohnheiten junger Menschen. Zum andern weisen sie darauf hin, dass etablierte Angebote die Bedürfnisse von GIO inhaltlich und formal nicht erfüllen, während klare Vorteile bei TikTok gesehen werden. Vor diesem Hintergrund scheint es wenig verwunderlich, dass in dieser Teilgruppe einzelne Social Media Content Creator wie Herr Anwalt oder Rezo eine wichtige Rolle als Informationsquelle eingenommen haben, da diese a) die richtigen Themen, auf b) die richtige, neutrale Art mit c) der entsprechenden unterhaltenden Darstellungsweise behandeln und d) als vertrauenswürdig wahrgenommen werden, wodurch sie e) das Interesse von jungen Leuten wecken.

Nichtsdestotrotz problematisieren die Befragten ihre eigene Nutzung sozialer Medien insbesondere mit Blick auf das Suchtpotenzial sowie das Erkennen von Desinformationen und unseriöser Akteure. Wenn es also um das Informationspotenzial der Plattformen geht, wird deutlich, dass diese ein schwierig zu navigierendes und unsicheres Informationsumfeld darstellen. Dies liegt zum einen an dem Umstand, dass auf den Plattformen überwiegend negativer und „toxischer“ Content verbreitet wird, und zum anderen daran, dass „Fake-Accounts“ und „Fake-Inhalte“ zu Unsicherheiten und in der Konsequenz zu fehlendem Vertrauen in Inhalte in sozialen Medien allgemein führen – eine Differenzierung nach Accounttyp bzw. Absender wird dabei nicht getroffen. Zwar haben die Teilnehmenden teilweise Strategien, wie sie mit Unsicherheiten hinsichtlich zweifelhafter Absender und Inhalte umgehen (meistens Durchführung einer Google-Suche). Insgesamt ist dies allerdings ein Indiz dafür, dass es in der untersuchten Gruppe große Orientierungsprobleme gibt und es etablierte Anbieter bislang nicht geschafft haben, ihren Mehrwert zu vermitteln und sich von anderen, nicht-professionellen Akteuren in sozialen Medien abzugrenzen.

Einstellungen: Zuallererst muss hervorgehoben werden, dass die Teilnehmenden der Fokusgruppen sehr wenig über Journalismus wissen; das drückt sich vor allem darin aus, dass kein Wissen darüber besteht, was die Aufgaben von Journalisten sind, wer als Journalistin arbeiten kann und welche Rolle der Journalismus für die Verbreitung von Informationen allgemein und innerhalb der Gesellschaft einnimmt. Gleichzeitig löst der Journalismus-Begriff überwiegend negative Emotionen wie Desinteresse, aus und ruft Assoziationen mit Fake-News und Paparazzi hervor. Entsprechend der Kritik an Nachrichten in klassischen Medien, die sich in erster Linie auf zu viel Übertreibung und zu wenig differenzierte Erklärung bezieht, werden von den Teilnehmenden konkrete Aspekte genannt, die sie sich vom Journalismus wünschen: neutrale Darstellung, Meinungsvielfalt, Verständlichkeit und Begegnung auf Augenhöhe. Bislang erfüllen vielmehr soziale Medien wie TikTok diese Kriterien für die Befragten.

Die identifizierten Einstellungsmuster gegenüber Medien beziehen sich auf eine eingeschränkte Repräsentation und Themenvielfalt, eine eingeschränkte Perspektivenvielfalt sowie ein unstimmiges Gesamtbild. Bei der fehlenden Repräsentation und eingeschränkten Themenvielfalt steht die Wahrnehmung im Vordergrund, dass zu viel über bestimmte Themen berichtet wird, während andere (wichtigere) Themen nicht berücksichtigt (bzw. verschwiegen) werden und die eigene Identität (alters- und herkunftsbezogen) nicht ausreichend repräsentiert wird. Dies führt zu negativen Haltungen und der Wahrnehmung, dass die eigentlich wichtigen Themen aus den Augen verloren werden. Bei der eingeschränkten Perspektivenvielfalt herrscht die Ansicht vor, dass in den Medien eine dominante Perspektive vertreten wird, während andere außen vorbleiben, wodurch ein Druck entsteht, diese Perspektive zu übernehmen. Dies führt zu Unverständnis und der Wahrnehmung einer negativen Beeinflussung der eigenen Meinungsbildung. Dem letzten Muster liegt die Wahrnehmung zugrunde, dass in den Medien ein zweifelhaftes Gesamtbild gegeben wird, das weniger aufgrund von falschen Fakten und mehr aufgrund des Weglassens einzelner Tatsachen, Meinungen und Ereignisse zustande kommt. Dies führt in erster Linie zu Vertrauensverlust, in Einzelfällen zur Abkehr von klassischen Medienangeboten. In der Konsequenz führen alle drei Einstellungsmuster zu einem ähnlichen Verhalten bzw. können alle drei Einstellungsmuster die dargestellten Nutzungspraktiken erklären. Es gibt eine geringe Nutzung und Relevanz von etablierten Medien bei gleichzeitiger Hinwendung zu Social-Media-Plattformen und dort auftretenden Einzelakteuren, die eine Themen- und Perspektivenvielfalt bieten, auf Basis derer sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen besser eine eigene Meinung bilden können, ohne negativ beeinflusst zu werden. Insgesamt geben die Ergebnisse wertvolle Einsichten in eine Teilgruppe junger Menschen, die wenig am aktuellen Weltgeschehen interessiert ist und mit Informationsangeboten etablierter Anbieter kaum erreicht wird. Dabei muss beachtet werden, dass sich die Teilnehmenden der Bottrop-Gruppen – mit Blick auf Informationsbedürfnisse, Nutzungspraktiken und Einstellungen – deutlich von den Jugendlichen und jungen Erwachsenen der anderen Gruppen unterscheiden. So weisen die jungen Bottroper großes Interesse und eine umfassend orientierte Nutzung auf. Zudem zeugen die Bottrop-Fokusgruppen von einem hohen Maß an Wissen und Reflektion gegenüber Journalismus sowie der eigenen Nutzungspraktiken. Diese Erkenntnis ist besonders relevant, weil sie zeigt, dass journalistische Bildungsarbeit einen großen Unterschied machen kann. Einzelne Initiativen haben ein großes Potenzial, junge Menschen zu erreichen, die lediglich aufgrund soziodemografischer Merkmale als GIO eingestuft werden könnten.

Informationen zur Studie

Wie informieren sich die Menschen in Deutschland im digitalen Zeitalter? In dem langfristig angelegten Projekt „UseTheNews – Nachrichtennutzung und Nachrichtenkompetenz im digitalen Zeitalter“ erforscht das HBI die Nachrichtenkompetenz insbesondere der Bevölkerung unter 30 Jahren. Im Fokus der vorliegenden Teilstudie standen junge Menschen, die sich kaum für aktuelle Informationen interessieren und mit journalistischen Angeboten nicht erreicht werden: die gering Informationsorientierten. Sie machen etwa ein Drittel der 14- bis 24-Jjährigen aus (Jugendliche im Alter von 14-17 Jahren: 45%, junge Erwachsene im Alter von 18-24 Jahren: 22%). Die in dieser Studie gewonnenen Erkenntnisse sind nicht dazu geeignet, verallgemeinernd und allgemeingültig auf alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland übertragen zu werden. Vielmehr geben die Ergebnisse wertvolle Einsichten in eine Teilgruppe junger Menschen, die wenig am aktuellen Weltgeschehen interessiert ist und mit Informationsangeboten etablierter Anbieter kaum erreicht wird.

https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/90067/ssoar-2023-wunderlich_et_al-Verstandlicher_nicht_so_politisch_-.pdf?sequence=4&isAllowed=y&lnkname=ssoar-2023-wunderlich_et_al-Verstandlicher_nicht_so_politisch_-.pdf

 

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