Das Verbot wirkt nur bedingt

17. Juli 2022
Das Verbot wirkt nur bedingt

Verbot russischer Propaganda durch EU-Kommission ist rechtswidrig

17.07.2022. Von Petra Kammerevert (SPD), Mitglied des Europäischen Parlaments

Neben dem Ölembargo findet sich im neuesten EU-Sanktionspaket gegen Russland ein Sendeverbot für drei weitere russische Staatssender. Dies findet öffentlich wenig Beachtung und ist dennoch hochproblematisch. Aus meiner Sicht ist dieses Vorgehen nicht nur politisch ungeschickt, sondern auch unvereinbar mit der EU-Grundrechtecharta. Die dort fixierten Freiheiten sind hart erkämpft, aus einer konfliktreichen Geschichte entstanden und müssen, gerade in schwierigen Zeiten, Richtschnur unseres Handelns sein. Dementsprechend müssen sich mein Handeln, mein Mitwirken an der Gesetzgebung und an Instrumenten für eine bessere Welt zunächst einmal daran orientieren, erkämpfte Freiheiten, zu verteidigen und sie optimal zur Geltung kommen zu lassen. Und dies gerade in schwierigen Zeiten. Sie stehen nicht nach Wetterlage zur Disposition. Denn unsere Grundfreiheiten, sowohl die deutschen als auch die europäischen, sind aus der schmerzvollen Erfahrung zweier Weltkriege entstanden.

Und ja, vielleicht bin ich als Deutsche besonders sensibel bei der Verteidigung der Medien-, Meinungs- und Informationsfreiheit, weil die Deutschen genug autokratische Systeme erlebt haben, die klar Vorgaben, was gut und was schlecht sei. Propaganda gab es zwischen beiden deutschen Staaten in den Zeiten des Kalten Krieges mehr als genug: So sendete das ?Radio im Amerikanischen Sektor?, kurz RIAS, sich selbst als ?Freie Stimme der freien Welt? bezeichnend, weit in die damalige DDR hinein. Finanziert aus den USA hatte der Sender die Aufgabe, westliche Werte, westliche Freiheit und Vorstellungen von Demokratie und Pluralismus populär in den Sozialismus hineinzusenden. Wer in der DDR wiederum das Programm des dort als ?Feindsender? verbotenen (!) Mediums hörte, musste mit staatlichen Repressalien, bis hin zu Haft, rechnen. Die DDR wiederum strahlte wöchentlich die Sendung ?Der Schwarze Kanal? aus. Gezeigt wurden Ausschnitte aus dem Programm des westdeutschen Fernsehens, die dann mit aggressiver Polemik kommentiert und in andere Zusammenhänge eingeordnete wurden - Desinformation und Propaganda par excellence, 30 Jahre lang, immer montags zur besten Sendezeit. Die westdeutsche BRD ist daran nicht untergegangen, im Gegenteil.

Aus dem RIAS erwuchs später der heutige Deutschlandfunk Kultur: Jeden Sonntag um 12 :00, erst im RIAS ab dem 24. Oktober 1950, dem Tag der Vereinten Nationen, bis heute im Deutschlandfunk Kultur erklingt dort das Läuten der Freiheitsglocke des Berliner Rathauses Schöneberg, begleitet mit dem Satz ?Ich verspreche, jedem Angriff auf die Freiheit und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo auch immer sie auftreten mögen.? Als Mahnung. Als Maßstab an uns selbst. Unverrückbar. Universell. In seiner Einweihungsrede sagte der damalige Bürgermeister Berlins, Ernst Reuter, dass alle Unterdrückten dieser Welt Gewissheit haben könnten, dass ?alles was wir tun beseelt und erfüllt ist von dem einzigen Gedanken, die Freiheit nicht nur für uns, sondern die Freiheit für alle zu gewinnen.? Wenn wir darüber hinaus tatsächlich davon überzeugt sind, dass Medien-, Informations-, Meinungs- und Pressfreiheit Gradmesser für den inneren, freiheitlichen Zustand demokratischer Gesellschaften sind und schlechthin konstitutives Gut, dürfen wir deren unbedingte Verteidigung nicht aufgeben. Erst recht nicht in Kriegszeiten.

?Ein Sendeverbot ist einer der tiefsten denkbaren Eingriffe in die Medienfreiheit.?

Selbst in Hochzeiten des Kalten Krieges kam der Westen nicht ansatzweise auf die Idee, Sendungen oder ganze Sender zu verbieten. Weil man sich auf der moralisch richtigen Seite sah, nämlich als Verteidiger von Freiheit, war es schlicht undenkbar, auch nur annähernd mit ähnlichen Instrumenten zu agieren wie die autokratischen Sowjets und sendete stattdessen aktiv gegen die Propaganda an. Jetzt mag man einwenden, dies sei alles lange her, es seien technisch andere Zeiten gewesen und Medienkonsum ginge heute völlig anders. Aber es geht um das Grundsätzlichere: Wollen wir den Kampf gegen Putin auch moralisch gewinnen, wird dies nicht gelingen, indem wir unsere eigenen Freiheiten erst einmal opfern um sie angeblich zu schützen. Dies haben wir meines Erachtens aber bei dem Verbot von Russia Today und Sputnik auf europäischer Ebene getan.

Zunächst einmal hat die EU keine Kompetenz. Medien sind zwecks Wahrung nationaler Vielfalt und als Ausformung der Kulturkompetenz nationaler Mitgliedstaaten ein subsidiäres Politikfeld. Die höhere staatliche Ebene soll nur dann eingreifen, wenn die niedrigere sich außer Stande sieht allein zu handeln. Entsprechend werden Rundfunkzulassungen mitgliedstaatlich, nicht aber europäisch erteilt. Nichts anderes kann für deren Verbote gelten. Dies ist auch sachgerecht. Ich habe größtes Verständnis für unsere baltischen Staaten, die unter russischer Propaganda ganz anders leiden, als Portugiesen, Griechen oder Malteser. Weil die Wirkmacht ein und desselben Mediums schon allein wegen der geografischen Lage und der Verwandtheit von Sprachen neben vielen anderen Faktoren erheblich differiert, verbieten sich Einheitslösungen auf EU-Ebene. Vor dem EU-weiten Verbot am 1. März war noch kein Beweis erbracht, dass nationale Verbote nicht mindestens genusogut vor Ort Wirkung entfalten. Nun griffen die EU Regierungschefs am 1. März in die rhetorische Trickkiste und regelten ganz bewusst nicht etwa ?Medien?, sondern bezeichneten das Verbot als notwendige Sanktion im Rahmen der Außen- und Sicherheitspolitik. Jedoch materialisiert sich das Verbot in Art. 2 f Abs. 2 Verordnung (EU) Nr. 833/2014 mit dem Wortlaut: ?Alle Rundfunklizenzen oder -genehmigungen, Übertragungs- und Verbreitungsvereinbarungen [...] werden ausgesetzt.? und stützt dies auf seine Kompetenz gem. Art. 215 AEUV ?Wirtschaftsbeziehungen? einschränken zu dürfen. Jedoch wird diese, rein wirtschaftlichen Betrachtung in den dazugehörigen Erwägungsgründen nicht widergespiegelt. Diese stellen nicht etwa nur auf organisationsrechtliche Mängel der Staatsferne beider verbotener Sender ab, sondern versteigen sich mit den Formulierungen ?Medienmanipulation?, ?Verfälschung von Fakten? und ?Propagandaaktionen? in Werturteile über Medieninhalte, die Regierungen nach dem Staatsfernegebot schlicht nicht zustehen. Schließlich lässt diese Begründung erkennen, dass es letztlich um negativen Einfluss auf Meinungen geht, obwohl die Regelung der öffentlichen Meinung nicht der EU obliegt.

?Rundfunk? wird in dem Artikel unzulässigerweise verkürzt als reines Wirtschaftsgut behandelt und damit dessen Doppelcharakter als Wirtschafts- und Kulturgut komplett negiert. Schon allein dies ist völlig widersprüchlich: Denn man kann nicht einerseits behaupten, bestimmte Rundfunksender hätten als Träger sicherlich kontroverser und zu widersprechender Inhalte einen schädlichen Einfluss auf die öffentliche Debatte (sieht damit also eine problematische aber eben nicht-wirtschaftliche Komponente) und will sie andererseits rein wirtschaftlich regeln. Auch wegen dieses Doppelcharakters entzieht sich der Rundfunk in weiten Teilen europäischer Handlungsmöglichkeiten. Wenn Regierungen letztlich Medien wegen ihres Einflusses auf die öffentliche Meinungsbildung und damit auf Kulturen regeln wollen, dürfen sie die dafür vorgesehenen Kompetenzgefüge mit den darin enthaltenen Schutzmaßnahmen zur Gewährung von Freiheiten nicht durch ein Ausschwenken auf andere Kompetenzen unterwandern. Diesbezüglich habe im Rat wohl nur Deutschland Bedenken angemeldet.

Zudem hat sich kein Parlament unmittelbar mit den Sendeverboten befasst. Ein Sendeverbot ist einer der tiefsten denkbaren Eingriffe in die Medienfreiheit. Weder das Europäische Parlament noch nationale Parlamente waren in die Entscheidung angemessen einbezogen. Wenn wir nicht in Zweifel ziehen wollen, dass es zu den elementaren Bedürfnissen des Menschen gehöre, sich aus möglichst vielen Quellen zu unterrichten, hätte es einer parlamentarischen Debatte eines Verbots bedurft. Diese ist bis heute nicht erfolgt. Dabei ist es auch erst einmal völlig zweitrangig, welche Qualität man solchen Inhalten beimisst.

Auch wenn uns diese missfallen, sind sie mit dem Verbot nicht aus der Welt. Der Zugang wird allen Europäerinnen und Europäern erschwert aber eben nicht unmöglich gemacht. Diejenigen, die die Webseite sehen wollen, sehen sie und auch diejenigen, die den Livestream empfangen wollen, tun dies und werden noch weiter aus der gesellschaftlichen Mitte in ihre eigene Bubble gedrängt. Diskussionen über RT-Beiträge laufen auf Twitter weiter, nun ohne Beteiligung derer, die aus guten und nachvollziehbaren Gründen keinen besonderen Aufwand betreiben wollen um beide Sender zu rezipieren. Wem also hilft letztlich gesamtgesellschaftlich das Verbot? Eine Einschränkung des ebenfalls geschützten Informationszugangsrechts aller ist es allemal.

Und wirkt das Verbot tatsächlich oder löst es nicht auch unerwünschte Nebeneffekte aus? Das Verbot wirkt nur bedingt. Zwar ist der audiovisuelle Livestream von Russia Today nicht mehr erreichbar. Die Internetseite von RT kann jeder aufrufen, der intellektuell in der Lage ist, zwei Punkte und sieben Buchstaben in der richtigen Reihenfolge in der Adresszeile eines Browsers einzugeben. Dort geriert sich Russia Today in Texten als Märtyrer. Dieser Effekt war schon bei Erlass des Verbots vorhersehbar. Zumal Texte keiner Rundfunklizenz unterliegen und ?Verbreitungsvereinbarungen? von Inhalten nicht notwendigerweise in der EU abgeschlossen werden müssen um EU-Bürgerinnen und Bürger zu erreichen. Das Verbot ist, was textliche Verbreitung von Propaganda anbelangt, schon ungeeignet. Auch weiß jede EU-Bürgerin und jeder EU-Bürger, der über einigermaßen digitales Basiswissen verfügt, wie man ein Virtuelles Privates Netzwerk benutzt. Befindet sich mein Endgerät virtuell außerhalb der EU, ist der Livestream ohne Weiteres abrufbar.

Auch hätte man in Parlamenten debattieren können, ob wir uns nicht mit kurzsichtigen Verboten selbst des hohen moralischen Anspruchs berauben, auch in Zukunft Verteidiger der Freiheiten moderner westlicher Demokratien zu sein. Sich lediglich als solche zu inszenieren trägt auf lange Sicht nicht. Wir können nicht gleichzeitig Putin dafür tadeln, dass er die Deutsche Welle in Russland verbietet und dann betreten nach unten schauen, wenn dieser erwidert, dass wir in Form und Inhalt mit Russia Today und Sputnik genau das Gleiche tun. Wir können gegen Putin nur dann auch moralisch gewinnen, so lange wir von Regierungen getragen werden, deren Handeln auf dem unbedingten Verteidigen der Freiheiten fußt. Und dies tun die Verbote nicht. Es war der EU hier weder erlaubt, überhaupt tätig zu werden noch in der Form Medienrecht zu unterlaufen. Wir haben in der Audiovisuellen Mediendienste-Richtlinie in vollem Respekt dessen, was uns europäisch möglich ist, auch die Nicht-Weitersendung audiovisueller Mediendienste geregelt. Diese gilt innerhalb der EU. Möchte man darüber hinaus gehen, ist dies entweder nationale Angelegenheit oder es müssen die EU-Verträge zuvor geändert werden. Darüber hinaus wurde festgelegt, dass Medienregulierung in

den Mitgliedstaaten staatsfern zu erfolgen hat, ihr klare Regeln zugrunde liegen müssen und Entscheidungen beklagbar sein müssen. Die Entscheidung des Rates ist von Staatsferne weit entfernt, von klaren und objektivierbaren Regeln und Kriterien, die Entscheidungen zugrunde liegen, ganz zu schweigen. Auch nach innen schadet dieser Aktionismus auf lange Sicht, denn wir können weder der polnischen noch der ungarischen Regierung in ihrem restriktiven Umgang mit Medien einen Verstoß gegen Rechtstaatlichkeit vorwerfen, wenn wir weiter so agieren.

?Es war der EU hier weder erlaubt, überhaupt tätig zu werden noch in der Form Medienrecht zu unterlaufen.?

Schließlich ist das Verbot aus meiner Sicht nicht nur rechtswidrig, sondern schadet uns als Europäerinnen und Europäer politisch. Art. 11 der EU Grundrechtecharta und Art. 10 Europäische Menschenrechtskonvention gelten - vor allem in Krisen und Ausnahmezeiten! Deniz Yücel, selbst Opfer von Zensur und politischer Verfolgung in der Türkei scheibt in einem Gastbeitrag in der Welt: ?Auch im Inneren führt dies (das Verbot von RT) zu einem Glaubwürdigkeitsproblem: Warum sollte man es mündigen Bürgern in Gouvernantenmanier vorenthalten, die russische Sicht der Dinge in Originalquellen zu lesen und zu hören? Spricht daraus nicht ein verheerendes Misstrauen gegen Verstand und Herz der eigenen Bevölkerung? Und selbst wenn manche auf die russische Propaganda hereinfallen, besteht die Stärke liberaler Gesellschaften nicht genau darin, auch ? pardon my French ? allerlei Scheißdreck aushalten zu können?? Recht hat er. Wir sollten unseren eigenen vielfältigen und unabhängigen Medien in Europa vertrauen, Propaganda, Fake-News und Desinformation zu entlarven und aufzuarbeiten. Ebenso sollten wir es den unabhängigen Medienaufsichtsbehörden in den Mitgliedstaaten überlassen, genaustens hinzuschauen und Rechtsverstöße unter Ausschöpfung rechtsstaatlicher Maßnahmen zu ahnden ? die Mittel dafür haben sie schon heute an der Hand.

Sorgenvoll stimmt mich, dass es mit zunehmenden technologischen Möglichkeiten immer schwieriger wird kommunikative Grundfreiheiten zu verteidigen. Sofort setzt man sich bei Einwänden der Kritik aus, man sei für Propaganda, für Terrorismus, für Kinderpornografie oder für Urheberrechtsverletzungen. Das bin ich mitnichten. Ich mache mir nur jedes Mal, wenn es um Verbote oder Überwachung von Kommunikation geht, darüber Gedanken ob es im Sinne einer liberalen und freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht auch anders geht. Nicht, weil es mir besonderen Spaß bereitet, sondern weil genau das meine Aufgabe als Abgeordnete ist. Und weil ich jederzeit, uneingeschränkt und mit reinem Gewissen Putin als Tyrann und Unterdrücker von Freiheiten brandmarken können möchte. Noch bedenklicher ist es, wenn wir es zukünftig großen Gatekeepern mit dem Digital Service Act erlauben, nicht nur rechtswidrige Inhalte zu löschen oder zu sperren, sondern mit Verweis auf ihre allgemeinen Geschäfts- und Nutzungsbedingungen auch legale journalistische und redaktionelle Inhalte. Medienaufsicht und -kontrolle werden so in die Hände privater Wirtschaftsunternehmen gelegt, die dann gleichsam nach Gutdünken als Zensoren auftreten. Entsprechend wurde die vorauseilende Entscheidung großer Plattformen und Netzwerke von vielen Seiten ? auch vom Europäischen Parlament ? bejubelt, Angebote von RT und Sputnik auf ihren Seiten zu sperren. Mit Blick auf den kommissionsseitig angekündigten Media Freedom Act hoffe ich, dass dies tatsächlich ein Akt zur Verteidigung der Medienfreiheit wird und nicht etwa einen Euphemismus für weitere Restriktionen kommunikativer Grundfreiheiten darstellt.

Eine gekürzte Fassung dieses Beitrages ist in der ?Frankfurter Rundschau? erschienen.

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