„Die digitalen Märkte sind weder frei noch fair“

21. November 2024
Presseverleger fordern, selbst zu entscheiden, ob und für welchen Preis, ihre Inhalte für die Künstliche Intelligenz genutzt werden

Der Medienverband der freien Presse (MVFP) appelliert mit Blick auf die Bundestagswahl im Februar 2025 an die politischen Parteien, im künftigen Koalitionsvertrag klare Maßnahmen zum Schutz der der freien Presse und zur Sicherung der wirtschaftlichen Grundlagen der Verlage festzulegen. Die „Erklärung zur Situation der freien Presse“ formuliert vier unverzichtbare Forderungen an politisch Verantwortliche auf Europa-, Bundes- und Landesebene: Die Presseverleger im MVFP drängen auf eine weitere Absenkung der Mehrwertsteuer auf Presseerzeugnisse, ein robustes Verfügungsrecht über künstliche Intelligenz, weitere Erleichterungen für Kooperationen sowie freien und fairen Marktzugang zu den Torwächterplattformen als zentrale Grundlage für die digitale Presse. Dies sei unabdingbar, um Meinungsvielfalt und journalistische Unabhängigkeit auch in der digitalen Zukunft zu gewährleisten.

Erklärung der Delegiertenversammlung des Medienverbandes der freien Presse (MVFP)

1. Am Ende des Jahres 2024 zeigt sich, dass die liberale Demokratie in Deutschland aus der Balance zu geraten droht, und das nicht erst durch das Auseinanderbrechen der aktuell noch regierenden, reduzierten Koalition. Die radikalen Kräfte im Land werden lauter, der Extremismus der politischen Ränder wird radikaler, und was diese Entwicklungen für die Stabilität unserer liberalen Demokratie und unserer offenen, pluralistischen Gesellschaft bedeutet, hat der Ausgang der Europa- und der Landtagswahlen im Laufe dieses Jahres gezeigt. Das Vertrauen der Deutschen in den Staat und seine Institutionen sinkt, 70 Prozent der Deutschen sind der Auffassung, der Staat sei überfordert.

2. Konfrontiert mit einer nicht endenden Flut an manipulierten und manipulativen Inhalten in den sozialen Netzwerken, sehen 81 Prozent der Deutschen in der Desinformation im Internet eine ernsthafte Gefahr für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Unmittelbar vor einer der wichtigsten Bundestagswahlen seit Jahrzehnten nehmen die Menschen in Deutschland gefälschte Nachrichten als besonders bedrohlich für Politik (68 Prozent) und Wahlen (58 Prozent) wahr. Währenddessen steigt die Zahl unseriöser, mit künstlicher Intelligenz generierter, teilweise nachgewiesen manipulativer Nachrichten-Kanäle in der medialen Realität Deutschlands signifikant: von Mai 2023 bis Oktober 2024 von 50 auf 1.100.

3. Diesen radikalisierenden und destabilisierenden Tendenzen gegenüber steht die freie, marktwirtschaftlich finanzierte Presse, deren Auftrag in der liberalen Demokratie im Artikel 5 des Grundgesetzes festgehalten ist. Die Relevanz dieses Auftrags – den das Bundesverfassungsgericht so formuliert: „Bürger müssen, um politische und andere Entscheidungen treffen zu können, umfassend informiert sein, aber auch Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können“ – steigt in der aktuell fragilen Situation unserer offenen, liberalen Gesellschaft deutlich. Rund 90 Prozent der Deutschen halten guten Journalismus für wichtig oder sehr wichtig für das Funktionieren von Gesellschaft und Demokratie, und zwei Drittel der 36.000 festangestellten Redakteurinnen und Redakteure arbeiten für die deutschen Verlage. Aber die ökonomische Situation der freien Presse hat sich in Deutschland 2024 nicht stabilisiert, sondern verschärft. Während die traditionellen Erlösquellen aus Vertrieb und Vermarktung schrumpfen (der Anzeigenumsatz der Publikumszeitschriften wird 2024 voraussichtlich auf rund 520 Mio. Euro sinken; der Vertriebsumsatz sinkt bei rückläufigen Auflagen auf insgesamt rund 2,5 Mrd. Euro), verlangsamt sich das Wachstum in der digitalen Vermarktung signifikant.

4. Die deutschen Verlage haben in den letzten 30 Jahren Milliarden in die Digitalisierung ihrer Medienkanäle und in die digitale Transformation investiert, aber die digitalen Märkte sind weder frei noch fair. Sie liegen fest in der Hand von monopolartig agierenden digitalen Technologiekonzernen, die willkürlich über Sichtbarkeit und Finanzierbarkeit der journalistischen Angebote der Verlage entscheiden. Diese realen Machtverhältnisse zeigen sich 2024 deutlich in der digitalen Dimension des Werbemarktes, der weltweit zwar ein Volumen von über einer Billion US-Dollar annehmen wird, die aber zu über 50 Prozent unter drei US-amerikanischen und zwei chinesischen Technologieplattformen aufgeteilt wird.

5. 2024 ist offensichtlich geworden, dass Deutschland sich in einer kritischen Situation großer politischer wie wirtschaftlicher Unsicherheit befindet. Die Gefahr einer weiteren Destabilisierung der Gesellschaft durch gezielte Manipulation über gefälschte Inhalte in den sozialen Massenmedien ist Ende 2024 greifbar. Die deutschen Verlage verstehen ihren im Artikel 5 des Grundgesetzes niedergeschriebenen Auftrag darin, der nicht endenden Flut an digitaler Desinformation und Manipulation durch verlässlichen, nur der Wahrheit verpflichteten und den Regeln des Presserechts folgenden Journalismus entgegenzuwirken. Dafür brauchen die Verlage das Verständnis der politisch Verantwortlichen, dass eben dieser Artikel 5 des Grundgesetzes auch eine Verpflichtung von Exekutive und Legislative dieses demokratisch verfassten Staates ist, die Institution der freien Presse zu erhalten.

6. Um das sicherzustellen und die Existenz einer wirklich freien, marktwirtschaftlich finanzierten freien Presse zu erhalten, ist es unverzichtbar,

  • dass die Mehrwertsteuer auf die redaktionellen Produkte der Verlage signifikant reduziert wird. Diese Reduzierung wäre ordnungspolitisch unbedenklich, inhaltsneutral, leicht umzusetzen, bürokratiefrei und würde kurzfristig zur Finanzierung digitaler wie gedruckter Publikationen beitragen;
  • dass der redaktionelle Inhalt als Kern der Wertschöpfung von Fachverlagen, Publikumsverlagen, der konfessionellen Presse wie der gesamten Presse einen robusten und praktisch durchsetzbaren Schutz im Urheberrecht vor nicht genehmigter Nutzung durch künstliche Intelligenz erhält. Allein die Verlage müssen entscheiden können, ob die Anwender künstlicher Intelligenz Inhalte der Verlage verwerten dürfen oder nicht – und wie sie dafür angemessen vergütet werden;
  • dass die vielfältige und mittelständisch geprägte Welt der Verlage im Wettbewerbsrecht mehr Freiheiten dafür bekommt, um sich angesichts übermächtiger internationaler Wettbewerber über kooperative Prozesse oder in kollaborativen Strukturen gemeinschaftlich zu verteidigen. Ohne diese Synergien und Effizienzen wird es angesichts schwindender ökonomischer Ressourcen schwer, das hohe Niveau der redaktionellen Produkte zu erhalten;
  • dass die Verbreitung der redaktionellen Inhalte der Verlage in der digitalen Dimension des Marktes durch klare Gesetze publizistisch und ökonomisch fair und diskriminierungsfrei organisiert wird. Je weiter die Dominanz internationaler Technologieplattformen an der Pressedistribution wächst, desto gefährlicher wird die Willkür dieser Torwächter in der Verbreitung von Inhalten für Freiheit und Demokratie. In der heutigen Realität entscheiden US-amerikanische und chinesische Technologiekomplexe völlig autonom und autark über die Sichtbarkeit von Publikationen, damit über deren Finanzierbarkeit und damit am Ende über die Meinungsbildung im digitalen Raum.
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