Offenheit, Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit sind Schlüsselbegriffe für Medien

30. Oktober 2023
Karola Wille, MDR-Intendantin
Karola Wille, MDR-Intendantin
Programmatische Überlegungen nach drei Jahrzehnten MDR zur Medienwirklichkeit und Medienzukunft

Von Karola Wille, MDR-Intendantin

In diesen Tagen ist der nächste „Leipziger Impuls“ auf den Weg gebracht worden, der die europäische Dimension des Gemeinwohlauftrages öffentlich-rechtlicher Medienhäuser in Europa in den Mittelpunkt rückt. In drei Public-Value-Konferenzen und in mittlerweile vier „Leipziger Impulsen“ ist auf Initiative des Mitteldeutschen Rundfunks immer wieder die Frage untersucht worden: Was macht den Kern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aus, wie muss er sich aufstellen, in welche Richtung muss er sich weiterentwickeln, um seinen gesellschaftlichen Auftrag bestmöglich zu erfüllen? Ein Auftrag, der ganz generell besagt: Der gemeinwohlorientierte Rundfunk soll die Gesellschaft in die Lage versetzen, sich ein umfassendes Bild von der Wirklichkeit zu machen, um damit die Grundlage zum vernünftigen demokratischen Denken und Handeln zu vermitteln. Und um die Grundlinien einer verlässlichen Orientierung zu bieten.

Der umfassendste Begriff für diese Aufgabe heißt Aufklärung, jene Denkfigur, die wie keine andere mit dem 18. Jahrhundert verbunden ist. Diese zentrale Feststellung hat alle die genannten Konferenzen und die vielen damit verbundenen Diskurse durchzogen und geprägt. Nichts liegt deshalb näher, als den großen Philosophen der Aufklärung, Immanuel Kant, zu bemühen, um einen Rahmen abzustecken, in dem zu bestimmen und zu ermitteln ist, was in der Summe gerade auch der MDR-Erfahrungen aus über drei Jahrzehnten die Gegenwart und die Zukunft eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks ausmacht, als vielfach auch rechtlich klar umrissene Form gesellschaftsdienlicher Medien.

Vier Fragen sind es, mit denen Kant den Rahmen seiner Aufklärungsphilosophie absteckt. Die ersten drei lauten: Was kann ich wissen?, Was soll ich tun?, Was darf ich hoffen? Die vierte heißt: Was ist der Mensch? Sie ist die offenste, auch fundamentalste. Deshalb soll sie hier aus gutem Grund nicht aufgegriffen werden. Die ersten drei aber bieten beste Anstoßpunkte, um Wegmarken und Erkundungsfelder abzustecken, welche zur aktuellen Fragestellung gehören: Wie steht es mit den Medien generell, wie speziell mit den gemeinwohlorientierten? Welches sind die Handlungsmodelle? Welche Hoffnungen sind mit dem Blick auf die Zukunft verbunden?

Eine Erfahrung ist gerade für viele ehemals in der DDR aufgewachsene Bürgerinnen und Bürger unvergesslich: Bis 1989 einen politisch gelenkten Staatsfunk mit seiner starken manipulativen Kraft selbst erlebt zu haben, Tag für Tag. Und diese Erfahrung mehrerer Generationen schuf zugleich einen dauerhaften Verdacht gegenüber öffentlichen medialen Diskursen. Diese in jeder Hinsicht einschneidende Erfahrung begründete und befestigte im Gegenzug die Anziehungskraft, die von der Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ausgeht: Einer offenen Gesellschaft zu dienen mit einem Forum, das den Zugang zu unabhängigen Informationen, zu einem offenen Austausch und zu freier Meinungsbildung ermöglicht, mit großer inhaltlicher Vielfalt und Teilhabe für alle Bürgerinnen und Bürger. Und dies als Instrument, dessen Praxis und Handhabung von der Gesellschaft selbst in repräsentativer Form kontrolliert werden, in Form vielfältig zusammengesetzter Gremien. Vor diesem Hintergrund ist die erste Antwort auf die Frage, wie es um dieses generelle Medienideal steht, zunächst ernüchternd. Ausgehend vom Befund, dass die Rundfunkfreiheit, so wie Freiheit generell, auch in einer freien Gesellschaft nicht selbstverständlich ist. Allerdings haben mehr als zehn Rundfunkurteile und höchstrichterliche Beschlüsse aus Karlsruhe in den letzten dreißig Jahren wesentlich dazu beigetragen, die Grundfesten der Rundfunkfreiheit in Deutschland zu sichern. Dies wiederum ist der großen historischen Errungenschaft zu verdanken, in einem demokratischen Rechtsstaat zu leben.

Aber heute hört die Gestaltung der Medienlandschaft an den nationalen Grenzen nicht auf. Vielmehr haben die stets noch fortschreitenden Kommunikationstechnologien diese Grenzen gesprengt, die Kommunikationsräume sind global geworden, werden global genutzt. Was bedeutet: Es gibt die Giganten, die kommerziellen Tech-Unternehmen wie Google und Apple, die weltweit operieren, die Märkte dominieren, die ihre eigenen Regeln schaffen und durchsetzen. Dies bislang ohne wirkliche Gegenmaßnahmen, auch wenn eingreifende, regelnde Initiativen auf den Weg gebracht werden, wie von Seiten der Europäischen Union. Auf der anderen Seite gibt es, umgekehrt, die politisch gewollten und durchgesetzten Blockaden, mit welchen autokratische Staaten den freien Kommunikationsfluss durch das Internet aufhalten oder filtern wollen. Dazu kommen, ganz unabhängig von diesen technischen Gegebenheiten, starke Tendenzen, Journalismus selbst einzuschränken. Medienfreiheit – das gehörte zur verstörenden und aufrüttelnden Erkenntnis unserer letzten Public-Value-Konferenz beim MDR in Leipzig – wird weltweit zur Mangelware. Bedrohungen von Journalisten, Einschüchterungen, Morde nehmen zu.

Auch der allgemeine Rahmen der Medienfreiheit wird vielerorts und vielfach eingeschränkt. Gekaperte Staaten, gekaperte Medien, wirtschaftliche Oligopole als Totalblockade der Freiheit, das alles ist vielfach die globale Realität. Eine Realität, die Europa, den so tief mit der Aufklärung verbundenen Kontinent, nicht ausspart. Öffentlich-rechtliche Medienhäuser, vor allem in Ost- und Mitteleuropa, haben errungene Freiheiten wieder verloren. Etliche Länder leiden unter staatlichen und wirtschaftlichen Indienstnahmen und Monopolstrukturen. Finanzierungsgrundlagen werden empfindlich gekürzt wie in Italien. Selbst eine früher eherne Institution wie die BBC muss bangen, weil die konservative britische Regierung die bisherige Gebührenfinanzierung im Jahr 2027 abschaffen will, zugunsten eines Abo-Modells und einer Teilprivatisierung. Frankreichs Medien, ein anderes Feld, werden zu Spielbällen von wenigen Milliardären, die öffentlich-rechtlichen Medienhäuser leiden trotz einiger Reformen immer noch unter erheblichem Staatseinfluss.

Aber auch für Deutschland gilt: Das mediale Klima ist in den zurückliegenden Jahren deutlich rauer geworden. Im politischen Raum ist es an verschiedenen Stellen schwer geworden, die grundlegenden verfassungsrechtlichen Vorgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wach zu halten. Dass Entscheidungen Karlsruher Richter zur Rundfunkfreiheit als Demokratiedefizit kommentiert werden und Parteien den Rundfunkbeitrag als politisches Wahlkampfthema entdeckt haben, ist besorgniserregend. Ebenso, dass Journalistinnen und Journalisten in ganz Deutschland auf Demonstrationen oder im Netz physisch und psychisch bedroht, sogar angegriffen werden. 

Eine Grundtatsache muss bei allem immer mitgedacht werden: Der fundamentale, sich weiterhin beschleunigende Strukturwandel der Öffentlichkeit. Er verändert alle publizistischen Parameter mit einer unumkehrbaren Zersplitterung der Kommunikationsräume, mit einer Individualisierung aller Bezüge und aller Botschaften sowie mit einer exponentiell wachsenden Zahl von isolierten Wahrnehmungswelten. Insofern sind wir heute alle stärker denn je auf der Suche nach Antworten auf die entscheidende Frage, wie wir zusammen leben wollen und wie das dazu notwendige Gespräch der Gesellschaft mit sich selbst organisiert wird.

„Ohne grundlegende Reformwilligkeit und Reformfähigkeit, würde eine auch von der Gesellschaft getragene öffentlich-rechtliche Medienzukunft aufs Spiel gesetzt, vielleicht sogar völlig verspielt.“

Eines ist sicher: Es gibt keine moderne repräsentative Demokratie ohne freie und unabhängige Medien. Gerade jetzt und auch in Zukunft braucht unsere demokratische Gesellschaft freie Medien, eine unabhängige Presse und einen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der seinen gesellschaftlichen Auftrag unabhängig und mit bester Qualität erfüllt. Dessen Mitverantwortung für das Funktionieren unserer Demokratie und für den Zusammenhalt in unserem Land ist sogar angesichts der vielfältigen Konfliktfelder in einer zunehmend zerklüfteten Gesellschaft größer denn je. Zu groß sind die Bedrohungen durch Informations- und Meinungsmonopole, durch Verzerrungen und Manipulationen, durch gezielt eingesetzte Lügen und Propaganda. Ein starkes, ein verlässliches Gegengewicht ist deshalb unbedingt notwendig, am besten zu kennzeichnen als medialer Glaubwürdigkeitsanker.

Der renommierte Politologe Herfried Münkler hat gerade einen in der Summe alarmierenden Befund vorgelegt, der zeigt, dass all die genannten Negativ-Phänomene nicht isoliert zu betrachten sind. „Welt in Aufruhr“, so ist seine Beschreibung betitelt. Aus der keine einfachen Handlungskonzepte abzuleiten sind. Allein ein ständiger offener Diskurs kann danach Wege zu sinnvollen Lösungen entwickeln und aufzeigen. Bei der Analyse und Bewertung der Qualitäten des medialen Diskurses ist in der direkten Reflexion des Medienbetriebs ein Defizit zu beklagen. Während Konzerte, Ausstellungen, Bücher, Filme, Theateraufführungen in der Regel ausführlich rezensiert werden, werden Medien als mit Abstand größte Diskurs- und Kulturunternehmen der Republik völlig vernachlässigt. Bis auf wenige Ausnahmen, die mit hoher Kompetenz überzeugen, sind Plätze regelmäßiger und fundierter Medienkritik nahezu verschwunden. Was sicher mit dazu beiträgt, dass viele Kritiker des ‚Systems’ sich mit Pauschalurteilen und rein negativen Zuschreibungen begnügen. Wer allerdings aufmerksam die Fülle der Angebote unter die Lupe nimmt, unabhängig von linearer oder zeit- und ortsunabhängiger, individuell bestimmbarer Verbreitung auf Plattformen, der wird einen großen Reichtum an Inhalten und Formen konstatieren.

Vor kurzem hat der vielfach preisgekrönte Autor und Regisseur Dominik Graf beklagt, dass die durchaus vorhandenen guten Filme in Deutschland (und dies darf man auf das vielfach beteiligte Fernsehen übertragen) einfach nicht wahrgenommen würden, weil reflexhaft und standardmäßig nur Kritik geäußert werde. Dabei müssen viele Medien – pauschal gesagt – gerade in Deutschland ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen; schon lange nicht die öffentlich-rechtlichen Medienhäuser. Bei jeder Kritik im Einzelnen, die sehr berechtigt sein kann, muss nach ihrer Argumentationstiefe und ihrer Sachkenntnis gefragt werden, um sie ernst zu nehmen und in die eigenen Handlungslinien einzubeziehen. Wichtig ist dabei, sich wirklich und ernsthaft auf die Inhalte einzulassen. Eine reine Strukturdiskussion, wie sie oft anzutreffen ist, hilft bei der Frage nach der Angebotsqualität und der Funktionserfüllung von Medien nicht weiter. Es braucht vielmehr eine weitergehende, eine systematische und eine nachhaltige Medienkritik, in einem umfassenden und einem vertiefenden Sinne zugleich.

Für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bedeutet die konstant geforderte und auch wahrgenommene Mitverantwortung für das Funktionieren der Demokratie und für den Zusammenhalt in Deutschland, dass er über Denkweisen und Instrumente verfügen muss, welche diese Erwartungen erfüllen können. Zu den Hauptstichworten sollten gehören, das klang auf der jüngsten Public-Value-Konferenz in Leipzig überzeugend an, sowohl Souveränität als auch Demut. Das bedeutet einmal, in größtmöglicher, auf die eigene Kompetenz setzende Unabhängigkeit und Selbstbestimmung die innere und äußere Freiheit des Rundfunks zu schützen und zu verteidigen; darüber hinaus auch, sich nicht einschüchtern lassen und stets kritisch zu bleiben. Im Koppelbegriff der Demut stecken wiederum die Erwartung und auch Selbstverständlichkeit, die demokratischen Institutionen in der ihnen eigenen Kompetenz zu achten und anzuerkennen. Grundlage für die systemgebundene innere und äußere Unabhängigkeit ist dabei immer eines: für exzellenten Journalismus, für exzellente Programme einzustehen.

„So, wie gerade auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine kritische Begleitung braucht, so braucht er auch eine offene, eine kreative Reformdebatte.“

Weitere Stichworte für die Zielvorgaben – immer zu subsummieren unter der Kantschen Fragestellung des ‚Was soll ich tun?’ – sind die Forderungen nach Vielfalt und Tiefe, die jeweils mit Konsequenz angestrebt und realisiert werden müssen. Dabei ist Tiefe auch in dem Bereich als Basisbegriff zu verstehen, wo es um tragfähige und nachhaltige Antworten auf die Frage geht, auf welchen Feldern öffentlich-rechtliche Medienhäuser neu denken müssen, um ihrer Verantwortung für hohe Qualität des öffentlichen Diskurses auch in einer digital geprägten Kommunikationswelt gerecht werden zu können. Was auch und vor allem heißt, einer Welt, in der kommerzielle Plattformen mit ihrer unerbittlichen Netzwerklogik eine nie gekannte Wirkmacht erreicht haben, eine eigene gemeinwohlorientierte kommunikative Macht entgegenzusetzen.   

So, wie gerade auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine kritische Begleitung braucht, so braucht er auch eine offene, eine kreative Reformdebatte. An Forderungen von außen fehlt es nicht, wobei sie nicht selten erkennbar auch Konjunkturen und bestimmten Interessen unterliegen, die politischer, wirtschaftlicher oder persönlicher Art sein können. Aber auch innere Reformanstöße aus dem Kreis der ARD-Medienhäuser hat es gegeben. Derzeit haben sich diese Diskussionen intensiviert, nicht zuletzt auch, weil es an einzelnen Stellen Fehlentwicklungen gegeben hat, welche in der breiteren Öffentlichkeit eine kritische Generaldebatte über den Wert und den medialen sowie gesellschaftlichen Stellenwert des öffentlich-rechtlichen Systems ausgelöst haben. Die ARD selbst hat im Zuge der eigenen Reformdebatte eine stärkere Konzentration bei bestimmten Aufgabengebieten beschlossen. Das betraf zunächst, eingeleitet und intensiv vorangetrieben gerade auch in der Zeit des zweiten ARD-Vorsitzes durch den MDR (2016 und 2017), vor allem Fragen der Verwaltung, der Technik und Produktion, der Aufgabenoptimierung, der Ressourcenbündelung – dies alles immer verbunden mit der Schaffung sinnvoller gemeinsamer Strukturen. Bereits im Bericht der ARD an die Länder im Jahre 2017 zu Auftrag und Strukturoptimierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im digitalen Zeitalter wurde der Reformweg klar beschrieben. Der Weg zu einem crossmedialen und integrierten föderalen Medienverbund. Bei den jetzt einsetzenden weiterführenden Überlegungen und Maßnahmen werden verstärkt auch inhaltliche und redaktionelle Bereiche in den Blick genommen, so – ein vielbeachtetes Beispiel – beim für das Radio bedeutsamen Kunstgenre des Hörspiels. Dass solche Reformüberlegungen und –schritte auch heftige Gegenbewegungen hervorrufen, gerade bei den Medien-Kreativen, ist unvermeidlich und muss als Faktor in den Gesamtprozess einbezogen werden. Sicher ist gerade der klassische Programmbereich oft von tief verankerten Traditionen und überkommenen Arbeitsgefügen geprägt. Gleichwohl ist im Führungskreis der ARD unbestritten, dass auch hier neue Kooperationen und Arbeitsmodelle notwendig sind, ebenso wie der Zuschnitt von Aufgabenfeldern, um das Grundmodell des gemeinwohlorientierten Rundfunks zukunftsfähig zu gestalten. Ohne grundlegende Reformwilligkeit und Reformfähigkeit, gekennzeichnet durch stetigen und stets gut begründeten Wandel, würde eine auch von der Gesellschaft getragene öffentlich-rechtliche Medienzukunft aufs Spiel gesetzt, vielleicht sogar völlig verspielt. Dies schließt Veränderungsgeschwindigkeit und Reformkonsequenz seitens der Medienhäuser ein. Entscheidend bei all den Reformschritten ist es, Vielfalt, Kreativität und Innovationskraft zu befördern, denn die Qualität der Inhalte ist und bleibt der Garant für die Zukunft des Systems.

Die Länder selbst, als Träger des öffentlich-rechtlichen Rundfunks letztverantwortlich für die politische Gestaltung des Rahmens, haben eine Reihe eigener Reformüberlegungen in die Wege geleitet. Sie sollen in einen neuen Medienstaatsvertrag münden, dessen Änderungsentwurf voraussichtlich im kommenden Frühjahr oder Frühsommer vorliegen wird. Der jüngsten Sitzung der Rundfunkkommission der Länder bescheinigten Teilnehmer eine „konstruktive Atmosphäre“. Noch allerdings sind das zeitlich offene Perspektiven. Allerdings sind auch schon erkennbare Verbesserungen zu konstatieren, so bei der Entfesselung des bislang starr festgelegten Gefüges der linear verbreiteten Programme. Mehr Flexibilität muss das Grundgebot der Stunde für eine konvergente Medienwelt sein. Große Reformen, wie der Übergang von Gebühren zum Beitragsmodell oder die Weichenstellung für das Content-Netzwerk „funk“, belegen die Reformfähigkeit im föderalen Kreis.

Als der MDR 1997 erstmals den Vorsitz der ARD übernahm, legte der damalige Intendant Udo Reiter einen tiefgreifenden Reformplan vor. Dessen zentraler Punkt, eine Verringerung der Zahl der Länderanstalten, stieß vielfach auf erbitterten Widerstand. Beim erneuten Vorsitz durch den MDR wurde gleich eingangs, 2016, mit „Leitgedanken“ für den ARD-Verbund eine Perspektive abgesteckt, welche alle ARD-Mitglieder mitgetragen haben. Schon damals wurde darin konstatiert, dass es „gerade wegen der aktuellen komplexen und teils unübersichtlichen Weltlage einen immensen Bedarf an hochwertigem, wirtschaftlich und politisch unabhängigen Qualitätsjournalismus“ gebe, auch an „glaubwürdiger, einordnender und nicht an Einzelinteressen ausgerichteter Berichterstattung“. Maßgeblich sollten, so die Schlussfolgerung, deshalb folgende inhaltliche Leitgedanken sein: „Glaubwürdigkeit und Dialog“, „Integration und Kooperation“, „Innovation und Kreativität“. Zudem gelang ein entscheidender Paradigmenwandel: Das ARD-Motto „Wir sind Eins“ wandelte sich zu „Wir sind Deins“, eine klare Hinwendung zum Publikum. Daran hat sich auch heute, nach fast acht Jahren, nichts geändert. Und die vier „Leipziger Impulse“ – welche der MDR gemeinsam mit der jeweiligen ARD-Vorsitzanstalt, dem ORF, der SRG, dem Deutschlandradio sowie der Handelshochschule Leipzig entwickelt hat und die auch vom ZDF, ARTE und allen Landesrundfunkanstalten getragen werden –, sie unterstützen als kompakte Handlungsmodelle und Arbeitspapiere diese Leitgedanken weiter, bei detaillierter Ausarbeitung im Einzelnen.

Zu den heutigen Erfolgen, die ein gesteigertes, auch auf neuen Ausgleich zielendes föderales Bewusstsein des Medienverbundes spiegeln, gehört die Ansiedlung der ARD-Kultureinheit in Weimar und der Umzug des „Mittagsmagazins“ von Berlin nach Leipzig. Auch diese strukturelle Art von Vielfalt muss immer neu austariert werden. Dies dient dem allen Reformüberlegungen innewohnenden Grundprinzip von Transformation und Flexibilität. Gerade für den MDR, der aus einer fundamentalen Umbruchsituation hervorgegangen ist, gehören ständige Veränderung und Veränderungsbereitschaft zu den entscheidenden Faktoren. Die zu einer für alle Reformprozesse gültigen Grundüberzeugung führen, immer und überall. Sie lautet: Wir müssen und wollen uns immer wieder verändern, damit wir bleiben, was wir sind: ein für alle Bürgerinnen und Bürger relevanter Glaubwürdigkeits- und Vertrauensanker. Für den MDR ergeben sich dabei spezifische Aufgaben, die mit den Erfahrungen der Um- und Aufbruchszeit zu tun haben, welche immer noch von widerstreitenden Tendenzen sowie von Polarisierungen und Spannungen begleitet werden. Zu den Schlussfolgerungen gehört, die verschiedenartigen Lebenswirklichkeiten und die vielfältigen Lebensleistungen der Menschen widerzuspiegeln und dabei verstärkt auf den Dialog mit und zwischen den Menschen zu setzen. Dazu gehört auch, genau diese Darstellungen und Vermittlungen auch bundesweit noch stärker sichtbar zu machen. Wobei es zunehmend gelungen ist, den MDR als selbstbewusste Stimme des Ostens in der ARD und der öffentlichen Wahrnehmung zu etablieren.

Gleichwohl ist eine permanente Anstrengung erforderlich, um unterschiedliche Lebenswirklichkeiten aus differenzierten Perspektiven zu sehen, sie zu begleiten und darzustellen. Denn leider lehrt die Erfahrung, dass Vorurteile und Stereotype, gleich ob in Ost oder West, eine lange Haltbarkeit haben. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist es wichtig und zukunftsweisend, einen stark dialogorientierten Ansatz in die ARD zu tragen, fußend auf dem Modell des Dialogpanels „MDRfragt“. All diese einzelnen Gedanken, Schritte und Faktoren gehören zur Grundfrage, was zu tun ist, was getan werden sollte, um unsere Medienhäuser in eine tragfähige Zukunft zu führen. Multimedial müssen sie sich alle verstehen, wenn sie erfolgreich sein wollen, und zwar in allen Verbreitungsformen, vom klassisch Linearen bis zu digitalen Plattformen.

Und die entscheidende Herausforderung besteht darin - in Abhängigkeit von der Entwicklung des Mediennutzungsverhaltens - im Linearen relevant zu bleiben und im Digitalen relevanter zu werden. Der Anspruch, „für alle“ in der Gesellschaft Angebote zu unterbreiten, ist unabdingbar. Aber Absichten, Pläne, Zielvereinbarungen, Ausführungsskizzen, Strukturanpassungen sind nicht alles. Ganz abgesehen davon, ob Bertold Brecht Recht hat, wenn er weder Plan A noch Plan B für tauglich hält („Gehn tun sie beide nicht“), ist ohne Hoffnung nicht auszukommen. In der Frage, in welcher Form und auf welcher Grundlage der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine gesicherte Zukunft haben kann und soll, richtet sich diese Hoffnung zuallererst auf die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker. Sie müssen die Überzeugung haben, dass ein gemeinwohlorientiertes System in einer Demokratie von hohem gesellschaftlichen Nutzen und damit unverzichtbar ist. Die repräsentativen Gremien wiederum müssen auf bester Arbeitsgrundlage und im Bewusstsein von Souveränität ihre hohe Verantwortung für einen gesellschaftsdienenden Rundfunk wahrnehmen können.

Das Bundesverfassungsgericht hat diese dienende Grundfunktion, die auf ein offenes, plurales Gespräch der Gesellschaft mit sich selbst setzt, bislang immer wieder bestätigt und verteidigt. Doch braucht es unbedingt auch die Einsicht der Akteure, vornehmlich auf Seiten der Länder, um diese Grundüberzeugung mit Leben zu erfüllen und den die Vielfalt schützenden Medienrahmen im Sinne der Demokratie-Konstituierung praktisch zu erhalten. Und ihn so offen und flexibel zu gestalten, dass die Akteure im vollen Bewusstsein ihrer Verantwortung genügend Handlungsspielraum haben. Der künftige neue Medienstaatsvertrag sollte, das gehört weiter zu den Hoffnungen, einem Freiheitsbegriff folgen, der auf Vertrauen fußt und gerade damit das Zusammenstehen, das verantwortete Gemeinsame fördert. Die Hoffnung richtet sich auch auf das Publikum. Wird es genügend Menschen geben, welche dem medialen Trommelfeuer standhalten, dem jeder in der Gesellschaft ausgesetzt ist? Auf jeden Fall gilt: Wer im stets noch härter ausgetragenem Kampf um Aufmerksamkeit bestehen will, muss eine besondere Qualität bieten. Sie herzustellen, ist das eine. Sie zu erkennen und wertzuschätzen, ist das andere. Hier braucht es in der Tat Hoffnung, dass die beiden Seiten oft genug zueinanderfinden. Die weiterhin hohen Vertrauenswerte für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zeigen, dass ein gutes Fundament dafür existiert.

Zu den großen internen Hoffnungen gehört, dass es gelingt, das Thema Vielfalt, das schon beim ARD-Vorsitz 2016/2017 des MDR eine große Rolle gespielt hat, noch wesentlich intensiver in den Vordergrund zu stellen. Und dies in jeder Hinsicht, in allen Aspekten, inhaltlich und programmatisch. Natürlich auch strukturell, ausgehend von der schlichten Feststellung, dass die ARD der föderalen Vielfalt unseres Landes eine bedeutende publizistische Stimme gibt. Die jetzige strategische Weichenstellung der ARD in Richtung eines regional verankerten Inhalte- und Kommunikationsnetzwerks wird, so die gut begründete Hoffnung, zukunftsträchtig sein und ein stabiles Zukunftsmodell bilden. Dabei wird dieses Modell besonders dann auch nach außen eine besondere Anziehungskraft entwickeln, wenn es gelingt, gemeinsam mit dem ZDF und weiteren gesellschaftsverpflichteten Akteuren ein gemeinwohlorientiertes Streamingnetzwerk zu schaffen, das erkennbar einem gemeinsamen publizistischen Gedanken folgt und dem Publikum in leichter Bedienbarkeit zugänglich ist. Zukunftsfest wird ein solches Netzwerk vor allem dann sein, wenn alle Akteure respektvoll mit den vielfältiger gewordenen Meinungsspektren, Werthaltungen und Lebensentwürfen der Menschen umgehen. Und wenn es gelingt, tragfähige und dauerhafte Brücken zu bauen, welche den Dialog mit einer in sich komplexen, auf Differenzierung setzenden demokratischen Streitkultur zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen tragen. Und dies, das ist eine weitere Erwartung und Hoffnung, immer auf Augenhöhe, ohne meinungsdominantes Moralisieren; stattdessen mit viel Transparenz, getragen von einer Kultur der Wahrhaftigkeit. Dies gehört zu den elementaren Bestandteilen der Aufklärung, die als kostbare europäische Errungenschaft weiterhin weit ausstrahlen und als Ideal leuchten soll. Dass die Trias von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit ihre Anziehungskraft nicht verliert, das ist die größte Hoffnung. Sie muss getragen werden von freien, unabhängigen Medien. Offenheit, Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit, das sollten dabei drei Schlüsselbegriffe sein für zukunftswürdige Medien, welche der Gesellschaft dienen. Die größte Hoffnung ist, dass sie immer und überall gelebt werden. Mit voller innerer Überzeugung, mit klarem Bewusstsein, mit steter Leidenschaft. Als leuchtendes Fanal, der Aufklärung verpflichtet. Und damit eine tragfähige Brücke in eine lebenswerte Zukunft, für die Gesellschaft und für jeden Einzelnen.

 

Am 31. Oktober endet die Amtszeit von Intendantin Karola Wille, ab 1. November ist Ralf Ludwig neuer Intendant. Karola Wille übergibt den Staffelstab nach zwölf Jahren als MDR-Intendantin und insgesamt 32 Jahren im MDR. Von ihren 32 Jahren im MDR war Karola Wille 27 Jahre in leitenden Funktionen tätig. Im November 1991 begann sie als Referentin in der Juristischen Direktion des MDR und übernahm deren Leitung 1996. Als Juristische Direktorin leitete sie während des ersten ARD-Vorsitzes des MDR 1997 und 1998 die Juristische Kommission von ARD und ZDF. Im Oktober 2011 wurde sie vom MDR-Rundfunkrat zur Intendantin gewählt. In ihrer 12-jährigen Amtszeit leitete sie frühzeitig und strategisch den digitalen Wandel im MDR ein, um die Inhalte und Strukturen den sich verändernden Mediennutzungsbedürfnissen der Menschen anzupassen. Sie stellte den MDR konsequent als modernes trimediales Medienhaus auf. Als ARD-Vorsitzende 2016 und 2017 brachte sie eine umfassende Strukturreform auf den Weg, mit insgesamt 20 Projekten aus den Bereichen Verwaltung, Technik, Produktion und Programmherstellung. Als ARD-Filmintendantin pflegte Karola Wille über viele Jahre den engen Kontakt zur Produzentenlandschaft und setzte auch in dieser Funktion engagiert Akzente.

 

 

 

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