Subjektiver Ich-Journalismus

26. Juni 2025
Studie der Otto Brenner Stiftung: Analyse junger Formate öffentlich-rechtlicher Sender

„VOLLBILD“, „exactly“, „Ultravioletstories“, „Crisis – Hinter der Front“ und „PULS Reportage“ zählen zur zweiten Generation öffentlich-rechtlicher Presenter-Formate für junge Zielgruppen. Sie stehen in der Tradition von Formaten wie „Y-Kollektiv“, „STRG_F“ oder „Die Frage“. Die neuen Formate setzen noch radikaler als ihre Vorgänger auf die Ich-Perspektive der Reporter. Im Mittelpunkt stehen meist die Selbsterfahrung sowie eine gefühlsorientierte Ansprache der Zielgruppe. Thematisch und perspektivisch zeigen die Formate eine größere Variation als ihre Vorgänger. Gleichzeitig setzen sie oft auf ähnliche Themen und Zugänge wie diese, wodurch eine Übersättigung der jungen Zielgruppe mit subjektiv präsentierten Inhalten droht. Das sind Ergebnisse einer neuen Studie der Otto Brenner Stiftung. Autoren sind Janis Brinkmann, Christof Amrhein und Anna Pröhle.

Journalistische Formate, die Reporter als Presenter vor der Kamera in den Mittelpunkt stellen, haben in den vergangenen Jahren vor allem bei öffentlich-rechtlichen Angeboten einen bemerkenswerten Aufschwung erlebt. Sie setzen stark auf eigene Erlebnisse sowie daraus resultierende Erfahrungen, Meinungen und Gefühle, um Themen an eine junge Zielgruppe zu vermitteln. Sie verändern damit zum einen die Darstellungsform der Reportage nachhaltig und verschieben die Grenzen des Genres weiter in Richtung Personalisierung, Emotionalisierung und Partizipation. Zum anderen etablieren sie eine neue Form des subjektiven Ich-Journalismus, der sich längst nicht nur beim ARD-ZDF-Content-Netzwerk funk findet. Trotz ihrer Reichweite und Relevanz für junge Nutzer laufen Presenter-Formate noch immer unter dem Radar der Journalismusforschung. Um diese Lücke zu schließen, hat Janis Brinkmann im Jahr 2023 mit dem OBS-Arbeitspapier „Journalistische Grenzgänger“ eine Analyse der Reportage-Formate von funk vorgelegt. Die vorliegende Untersuchung schließt daran an und fragt, in welche Richtung sich die nachfolgende Generation öffentlich-rechtlicher Presenter-Formate entwickelt hat.

Methode

Die Studie untersucht öffentlich-rechtliche Angebote, die sich laut Selbstbeschreibung als Presenter-Formate verstehen und seit 2021 neu gegründet wurden oder seitdem einen Relaunch er fahren haben. Im Rahmen einer Vollerhebung aller YouTube-Beiträge von „VOLLBILD“ (SWR), „exactly“ (MDR), „Ultraviolet Stories“ (ZDF), „Crisis – Hinter der Front“ (SWR) und „PULS-Reportage“ (BR) wurden in einem Untersuchungszeitraum (2021 bis 2024) insgesamt 427 Reportagen mit mehr als 146 Stunden Videomaterial quantitativ analysiert. Neben formalen Kriterien erfasste die Untersuchung inhaltliche Kategorien wie Themen, Berichterstattungsmuster, Informationsquellen, Akteure, Darstellungsformen und Ereignisorte der Berichterstattung, die Bewertungen von Ereignissen und Akteuren sowie die Ausprägungen spezifischer Qualitätskriterien. Ergänzend wurden die Reportagen qualitativ analysiert.

Ergebnisse

Die Untersuchung zeigt, dass das Themenspektrum der öffentlich-rechtlichen Presenter-Formate insgesamt ausdifferenziert ist, einzelne Themen kommen in den Formaten aber immer wieder redundant vor. Neben gesellschaftlichen Themen aus Politik oder Wirtschaft (38,6 Prozent) werden vor allem Lebenswelt-Themen wie Partnerschaft und Gesundheit (39,8 Prozent) abgebildet.

Die Reportagen nutzen überwiegend gefühlsorientierte Strategien der Zielgruppenansprache (94,8 Prozent), während alternative, zum Beispiel wissens- oder skandalorientierte Aufbereitungsstrategien nur am Rande vorkommen. Auch bei den Berichterstattungsmustern dominiert ein subjektiver New Journalism (93,7 Prozent). Obwohl einige Formate explizit einen investigativen Anspruch formulieren, kommen alternative Muster, wie der Erklärjournalismus (3 Prozent) oder der Investigativjournalismus (2,3 Prozent), selten vor. Die vorherrschenden Darstellungsformen sind erwartungsgemäß narrativ, insbesondere Reportagen werden in 85,2 Prozent der Beiträge eingesetzt. Als Zugänge nutzen die Reporter am häufigsten journalistische Selbstversuche (37,5 Prozent), Portraits (19,7 Prozent) und Milieus (17,3 Prozent). Dass 93 Prozent der Reportagen die expliziten Meinungen der Reporter enthalten, steht zwar konträr zu traditionellen Konventionen der Darstellungsform, scheint jedoch für einen subjektiven Presenter-Journalismus charakteristisch zu sein. In der überwiegenden Zahl der untersuchten Bei träge sind die Reporter selbst die Hauptquellen (92,7 Prozent). Dass Protagonisten mit lediglich 6,9 Prozent als zentrale Quellen vor kommen, ist ebenso auffällig wie der Umstand, dass weitere Quellen wie Presseinformationen, Medienbeiträge oder Experten nur als Nebenquellen in nennenswertem Umfang auftreten. Dieser Eindruck wird dadurch gestützt, dass in nahezu jeder untersuchten Reportage (99,1 Prozent) eine ausgeprägte subjektive Tendenz erkennbar ist. Als Akteure treten vor allem die Reporter*innen selbst auf (92,5 Prozent). Die Protagonisten kommen mit 7,5 Prozent nur auf geringere Anteile; andere Akteursgruppen wie Experten, Politiker oder Bürger sind nur am Rande oder als Nebenakteure erkennbar. Abseits des auslandsjournalistischen Formats Crisis – Hinter der Front liegt der Schwerpunkt der Berichterstattung der Presenter-Reportagen auf Deutschland als Ereignisland, wobei die meisten Geschichten in Großstädten und nicht in Kleinstädten oder Dörfern verortet werden. Durch das MDR-Format „exactly“ sind auch die ostdeutschen Bundesländer in der Berichterstattung deutlich wahrnehmbar. Mit Ausnahme des Formats „PULS Reportage“ kommt keines der neuen Presenter-Formate auch nur ansatzweise auf die Reichweiten ihrer Vorgänger. Dieser Befund legt nahe, dass der ‚More of the same‘-Ansatz, der sich beispielsweise in den Ähnlichkeiten zwischen „STRG_F“ und „VOLLBILD“ deutlich zeigt, bei den jungen Zielgruppen nicht verfängt.

In der Mehrheit der untersuchten Reportagen werden die Themen nicht neutral, sondern negativ bewertet (57,1 Prozent), was den problemorientierten Ansatz von Presenter-Formaten wie „Crisis – Hinter der Front“ oder „VOLLBILD“ unterstreicht. Die zentralen Akteure der Reportagen werden überwiegend positiv bewertet, was insofern nicht überrascht, als es sich dabei vor allem um die Reporter selbst handelt. Zudem wurde explorativ bestimmt, welche journalistischen Qualitätskriterien in den neuen Presenter-Formaten stark oder schwach ausgeprägt sind: Formatübergreifend sind insbesondere Partizipativität (98,1 Prozent), Authentizität (96 Prozent), Exklusivität (95,3 Prozent) und Emotionalität (78,5 Prozent) stark ausgeprägt, was die durch andere Kategorien bestätigten subjektiven, erzählenden und gefühlsorientierten Charakteristika der Formate widerspiegelt. Traditionelle ‚objektive‘ Kriterien wie Transparenz, Vielfalt und Relevanz sind in der Mehrheit der Beiträge nicht stark ausgeprägt, während Reflexivität und Nutzwert in den meisten Reportagen fehlen.

Fazit

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen drei zentrale Muster der Entwicklung:

  • Erstens stehen die neuen Presenter-Formate in vielerlei Hinsicht in Kontinuität zu ihren Vorgängern, zum Beispiel bei den Themen und Darstellungsformen, den subjektiven Perspektiven und eigenen Meinungen der Reporter*innen sowie bei den Qualitätskriterien.
  • Zweitens prägen sie andere Besonderheiten radikaler aus, zum Beispiel das dominante Berichterstattungsmuster des New Journalism oder die Quellen- und Akteurskonstellation, die nahezu vollständig auf die Reporter setzt.
  • Drittens variieren die neuen Presenter-Formate die Berichterstattung des Genres, zum Beispiel durch eine stärkere globale oder regionale Verortung der Reportagen.

Die Analyse zeigt auch, wo es Optimierungsbedarfe und Ansatzpunkte für eine inhaltliche und strukturelle Weiterentwicklung gibt: Dass mache Themen redundant behandelt werden, trägt vermutlich dazu bei, dass die neue Generation der Presenter-Reportagen nicht ganz so erfolgreich ist, wie die erste Generation. Hier könnte eine Konzentration auf weniger Formate und Beiträge ein sinnvoller Ansatz sein. Auch dass investigative Recherchen kaum erkennbar sind und dass die permanent subjektive Perspektive in manchen Fällen einen wenig authentischen ‚Selfie-Journalismus‘ produziert, sind Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung.

https://www.otto-brenner-stiftung.de/ich-erzaehler-innen/

 

 

 

 

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