Challenge Accepted

27. Februar 2024
Medienanstalt NRW veröffentlicht Studie zur Verbreitung und Wahrnehmung von TikTok-Challenges

Fast jeder vierte Mensch in Deutschland nutzt die Online-Plattform TikTok, darunter vor allem Kinder und Jugendliche. Und wer TikTok vorher noch nicht kannte, hat spätestens mit dem Aufkommen von bisweilen lebensgefährlichen TikTok-Challenges von dem Social-Media-Angebot aus China gehört. Grund genug für die Medienaufsicht, sich die Verbreitung und Wahrnehmung von TikTok-Challenges einmal genauer anzuschauen. Dazu veröffentlicht die Medienanstalt NRW eine zweiteilige Studie, die sowohl eine repräsentative Online-Befragung zur Wahrnehmung von Challenges durch Kinder und Jugendliche als auch eine quantitative Inhaltsanalyse der Challenges umfasst. Durchgeführt wurde die Studie von Dr. Lara Kobilke und Dr. Antonia Markiewitz von der Uni München.

Ein Drittel der Challenges ist potenziell schädlich und sind sie einmal im Umlauf, verbreiten sie sich schnell. Transparenz zur Regulierung fehlt gänzlich.

Die Inhaltsanalyse hat dabei gezeigt, dass es sich mehrheitlich – bei rund 65 Prozent – der untersuchten Challenge-Videos um harmlose TikToks wie beispielsweise Tanz- oder Sing-Videos handelt. Rund ein Drittel der Videos zeigen jedoch potenziell schädliche und 1 Prozent sogar potenziell tödliche Challenges. Zwar ergibt die Analyse, dass Videos mit negativen Inhalten nicht zwangsläufig eine höhere Reichweite als andere Videos erzielen. TikTok reguliert schädliche Inhalte, indem sowohl die Challenges als auch damit zusammenhängende Suchbegriffe blockiert werden. Wird jedoch ein schädliches Video von TikTok nicht früh genug oder ausreichend reguliert, lässt der Algorithmus der Plattform es durchaus zu, dass sich Challenges innerhalb weniger Wochen stark verbreiten – denn Challenges jeglicher Art erfreuen sich großer Beliebtheit bei Kindern und Jugendlichen. Nach welchen Kriterien TikTok Challenges reguliert, mit Warnhinweisen versieht oder gar löscht, bleibt jedoch vollkommen unklar. Hier fehlt jede Transparenz.

Mehr als die Hälfte der minderjährigen Nutzenden stößt auch auf beunruhigende Inhalte, 10 Prozent von ihnen mindestens täglich.

Wieso sind TikTok-Challenges bei Kindern und Jugendlichen so beliebt und was bewirken solche negativen Challenge-Videos bei ihnen? Diesen Fragen haben sich die Forschenden im Rahmen einer Befragung von über 750 TikTok-Nutzenden im Alter zwischen 10 und 16 Jahren angenommen. Dabei zeigt sich: Die meisten Kinder und Jugendliche präferieren Comedy-Videos auf TikTok, dennoch begegnen über 60 Prozent der Befragten auf TikTok auch Inhalten, die bei ihnen Unwohlsein verursachen, knapp 10 Prozent begegnen diesen Inhalten sogar mindestens täglich. Darunter sind auch ältere und sehr gefährliche Challenges wie die „Momo Challenge“, bei der Teilnehmende gefährliche und selbstverletzende Aufgaben von einer Entität namens „Momo“ erhalten. Trotz strenger TikTok-Regulierung ist diese Challenge bei mehr als 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen bekannt. Eine mögliche Erklärung hierfür liefert die Studie gleich mit. Kinder und Jugendliche erfahren nicht nur über TikTok, sondern auch durch andere Quellen und Debatten in traditionellen Medien von den Challenges. Es empfiehlt sich daher, insbesondere potenziell gefährliche und tödliche Challenges nur mit Einordnung in den Medien zu besprechen. 40 Prozent der befragten Jugendlichen wünschen sich außerdem eine unabhängige Meldestelle für beunruhigende Videos.

Wie man Kinder und Jugendliche bei der TikTok-Nutzung begleiten kann.

„TikTok muss neben den offensichtlichen Nachlässigkeiten beim Schutz der Menschenwürde auch im Bereich des Jugendschutzes anfangen, seine Verantwortung ernst zu nehmen. Es mag sein, dass das bei der großen Zahl von Inhalten eine Herausforderung ist. Aber zum einen ist das ja zunächst mal das Problem dessen, der die Gefahr setzt und zum anderen könnte ich mir vorstellen, dass es TikTok in anderen Märkten wie beispielsweise China durchaus gelingt, die dortigen Regeln einzuhalten. Uns liegen halt die europäischen mehr am Herzen. Gleichzeitig müssen Eltern und pädagogische Fachkräfte sich immer wieder bewusst machen, dass die Welt, in der ihre Kinder aufwachsen, heute auch digital ist. Es reicht nicht, nur zu wissen, wie das Kind nach dem Sportunterricht nach Hause kommt, sondern auch, mit wem es virtuell abhängt und was ihm dort begegnet“, kommentiert. Dr. Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien NRW, die aktuelle Studie.Aufrichtiges Interesse an der Mediennutzung und das Bestärken der Kinder und Jugendlichen darin, Videos weiterswipen, wegklicken oder melden zu können, sind ein Anfang, um den vertrauensvollen Austausch zuhause oder in der Schule zu fördern. Verbote bringen erfahrungsgemäß eher wenig. Für individuelle Beratung stehen die Expertinnen und Experten der Medienanstalt NRW zur Verfügung.

Zur Einordung der Ergebnisse: Handlungsempfehlung und Ausblick

Die große Mehrheit der auf TikTok auffindbaren Challenge-Videos dreht sich um neutrale, harmlose Challenges. Dementsprechend werden in Challenge-Videos wenige potenziell Entwicklungsbeeinträchtigende oder sogar absolut unzulässigeInhalte dargestellt. 13,5 Prozent beziehungsweise 30,5 Prozent (wenn Videos berücksichtigt werden, die durch Challenge-spezifische

Suchbegriffe von negativen Challenges in die Stichprobe gelangt sind) der untersuchten Videos zeigen negative Challenges. Fast alle dieser negativen Challenges beschäftigen sich mit Aktivitäten, von denen in der Regel keine langfristigen Schäden zu erwarten sind (z. B. Banana and Sprite Challenge oder Hot Chip Challenge) und die auch eine vergleichsweise geringere Reichweite erhalten. Tatsächlich blockiert TikTok ganze Challenges samt zugehöriger Suchbegriffe (und z. T. auch Abwandlungen selbiger). Das ist insbesondere bei potenziell tödlichen Challenges der Fall, wie beispielsweise der Blackout Challenge. Wie sich zeigt, scheint TikTok hier die Aufgabe der Contentmoderierung und -regulierung ernst zu nehmen und bei länger bekannten, gefährlichen Challenges durchzugreifen. Weniger gefährliche Challenges können dagegen gut durch ein paar simple Abwandlungen der Suchbegriffe aufgefunden werden, selbst wenn der ursprüngliche Name der Challenge und zugehörige Hashtags auf TikTok bereits gesperrt sind. Trotz Sperrungen existieren auf TikTok problematische Inhalte. Über 60 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen geben an, bereits auf Inhalte gestoßen zu sein, die bei ihnen Unwohlsein ausgelöst haben. Rund ein Viertel der Befragten berichtet sogar, mehrmals pro Woche auf solche Inhalte zu stoßen. Besonders beunruhigend sind hierbei Inhalte, die einerseits Gewalt, andererseits extremistisches Gedankengut verbreiten. Allerdings scheinen diese Inhalte nur selten aus dem Bereich der Challenges zu stammen, sondern eher aus anderen Kontexten, die psychisch belastend sind. Eine Ausnahme sind Darstellungen von Schmerz, die häufiger als andere problematische Inhalte in Challenge-Videos auf TikTok zu finden sind (in 15 Prozent aller untersuchten Videos).

Empfehlung:

TikTok sollte die bisherigen Bemühungen fortsetzen und noch mehr tun, um junge Nutzer und Nutzerinnen zu schützen. Es wäre hilfreich, wenn die Plattform das Mindestalter von 13 Jahren erhöhen oder sicherstellen würde, dass das Alter der Nutzer spätestens bei Anwahl nicht-jugendgeeigneter Videos überprüft wird. So können Kinder und Jugendliche besser vor Inhalten bewahrt werden, die ihnen unangenehm sein könnten oder mit denen sie noch nicht umgehen können.

Deutlich wird, dass Regulierungen durch die Plattformbetreiber positive Effekte auf die Eindämmung negativer Challenges haben. Greift TikTok einmal nicht regulierend ein, können sich auch potenziell gefährliche Challenges stark verbreiten. Das lässt sich insbesondere an der Hot Chip Challenge nachvollziehen, die den Kindern und Jugendlichen mit Abstand am bekanntesten ist und um die sich auch ein beachtlicher Anteil der untersuchten Videos dreht. Gleichzeitig kann auch die starke Präsenz dieser Challenge in den traditionellen Medien die hohe Zahl an Hot-Chip-Videos erklären. Grundsätzlich ist TikTok nämlich nicht die einzige Quelle, durch die Kinder und Jugendliche von entsprechenden Challenges erfahren. Gerade auf sehr gefährliche Challenges werden Kinder und Jugendliche auch durch Offline-Quellen aufmerksam, wie beispielsweise Fernseh-, Zeitungs- oder Radionachrichten, wie sie in der Befragung berichteten.

Empfehlung:

Insbesondere potenziell gefährliche und tödliche Challenges sollten nicht prominent in den Medien diskutiert werden – und wenn doch, dann nicht ohne entsprechende Einordnung. Eine umsichtige Berichterstattung, die auf mögliche Gefahren von negativen Challenges, aber auch auf Möglichkeiten zum Schutz sowie auf Hilfsangebote und Anlaufstellen hinweist, ist eine hilfreiche Kontextualisierung.

Das schulische Umfeld ist für Kinder und Jugendliche der wichtigste Ort, um sich über potenziell negative bzw. gefährliche Inhalte auf Social Media auszutauschen. Etwa 60 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen wünschen sich, diese Themen verstärkt in der Schule zu besprechen. Auch die Eltern bzw. Erziehungsberechtigten sind hierbei für Kinder und Jugendliche ein wichtiger Bezugspunkt.

Empfehlung:

Aufklärung ist ein nicht zu unterschätzender Präventionsfaktor. Durch proaktive Gespräche kann Vertrauen geschaffen und der Risikosinn der Heranwachsenden geschärft werden. In einschlägigen Studien haben Teilnehmende negativer Challenges berichtet, dass sie rückblickend nicht an der Challenge teilgenommen hätten, wären sie sich vorab der Risiken bewusst gewesen. Lehrkräfte, pädagogisches Personal und Erwachsene in Erziehungsfunktionen sollten versuchen, über aktuelle Trends unter Kindern und Jugendlichen auf dem Laufenden zu bleiben. Auch – oder insbesondere – schwierige, potenziell gefährliche Themen und Inhalte sollten proaktiv besprochen und mögliche negative Konsequenzen erklärt werden. Besonders hilfreich kann es sein, dass Bezugspersonen – nicht nur im Zuge von potenziell gefährlichen Challenges – die Mediennutzung ihrer Kinder begleiten. Dies geschieht beispielweise, wenn Eltern die Lieblingsinhalte ihrer Kinder gelegentlich mit ihnen gemeinsam ansehen. Dabei können Sorgen, Gefühle und Wünsche besprochen werden, die im Zuge dieser Mediennutzung bei den Kindern und Jugendlichen aufkommen können. Leitfäden für die Aufarbeitung entsprechender Themen im Unterricht könnten Lehrkräften helfen, diese in den Schulalltag zu integrieren. Die dezidierte Schulung von medienpädagogischem bzw. schulpsychologischen Personal, aber auch von Schülerlotsen für einen Peer-to-Peer-Austausch, kann eine unterstützende Maßnahme sein. Diese können entsprechendes Wissen im Schulkontext distribuieren. Auch für Erziehungsverantwortliche könnten Ratgeber helfen, die darauf eingehen, wie sich schwierige Inhalte – über die Kinder und Jugendliche vermutlich sogar besser Bescheid wissen als Erwachsene – einfacher im häuslichen Umfeld besprechen lassen. Zentral ist, einer breiten Basis die möglichen Gefahren, aber auch Dynamiken hinter negativen Challenges kenntlich zu machen. Gleichzeitig können auch mögliche wertvolle Effekte von positiven und auch von neutralen Challenges einbezogen werden. Indem Erziehungsverantwortliche ein Verständnis für den Unterschied zwischen positiven, neutralen und negativen Challenges entwickeln, wird es ihnen ermöglicht, Kinder und Jugendliche besser in ihrer Lebenswelt zu unterstützen, ohne pauschal Medieninhalte zu untersagen, die für die jungen Menschen von Bedeutung sein können.

Nicht zuletzt können und wollen die Kinder und Jugendlichen auch selbst aktiv werden und gegen problematische Inhalte vorgehen. Tatsächlich sind die Ausbildung von kritischer Reflexionsfähigkeit und Selbstwirksamkeit im Umgang mit problematischen Medieninhalten wesentliche Erziehungsziele in der medienpädagogischen Schulung von Heranwachsenden. Etwa 40 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen würden die Nutzung einer unabhängigen Meldestelle begrüßen, bei der sie entsprechende negative Challenges und problematische Videos melden können.

Empfehlung:

Eine unabhängige Meldestelle, bei der Kinder und Jugendliche problematische Inhalte aus dem Online-Bereich melden können, wird von vielen der Befragten begrüßt.

 

https://www.medienanstalt-nrw.de/fileadmin/user_upload/Bericht_TikTokChallenges_LFMNRW.pdf

 

 

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