Der Digital Services Act und Digital Markets Act, davor die eCommerce- und vor allem die AVMD-Richtlinie, zuletzt dann der Vorschlag für einen European Media Freedom Act (EMFA) – die Europäische Kommission ergänzt mit ihren Vorschlägen das Paket an Rechtsakten, das demokratische Standards in den Medien schützen oder eine Rechtsdurchsetzung in der digitalen Welt stärken soll. Diese Gesetze sind notwendig, ihre Bedeutung ist unbestritten. In der Anwendung zeigen sich jedoch Probleme, für die es im Blick auf die zunehmende Bedeutung der grenzüberschreitenden Verbreitung audiovisueller Inhalte dringend Lösungen braucht. Neben Fragen der Kompetenzverteilung zwischen den diversen Regulierungseinrichtungen, der Unabhängigkeit dieser Institutionen und der Schaffung von Kohärenz zwischen den verschiedenen Rechtsakten, ergeben sich erhebliche Schwierigkeiten in der Praxis bei der grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung. Es liegt nun bei den Gesetzgebern, diese Schwierigkeiten anzugehen – auch mit Blick auf den aktuell diskutierten EMFA-Vorschlag. Zu diesem Schluss kommt das Gutachten von Prof. Dr. Mark D. Cole und Christina Etteldorf, das die Landesanstalt für Medien NRW beim Institut für Europäisches Medienrecht (EMR) in Auftrag gegeben hat.
Unter dem Titel "Future Regulation of Cross-border Audiovisual Content Dissemination" analysiert der wissenschaftliche Direktor des EMR mögliche Verbesserungen der rechtlichen Rahmenbedingungen für die grenzüberschreitende Rechtsdurchsetzung, vor allem in Bezug auf die Verfahren in der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-Richtlinie). Ein zentraler Punkt der Überlegungen ist das Herkunftslandprinzip und aktuell beobachtbare Umgehungen national geltender Gesetze durch aus dem Ausland übertragende Anbieter. Was ursprünglich als Förderung für den europäischen Binnenmarkt gedacht war, wird zunehmend insbesondere von Anbietern außerhalb der EU missbraucht. So finden über rein technische Kriterien wie die Nutzung der Satellitenkapazität eines EU-Mitgliedstaats oder Satelliten-Uplinks aus einem von diesen beispielsweise auch antidemokratische Sendern aus Drittstaaten eine europaweite Verbreitung und begeben sich unter den Schutzschirm des Herkunftslandprinzips. Den europäischen Bestimmungsländern wird damit oft die Möglichkeit eines wirksamen Einschreitens auch bei illegalen Angeboten verstellt.
Herausforderungen einer grenzüberschreitenden Medienlandschaft in der Europäischen Union
Vornehmlich geht es um Risiken, die durch die Verbreitung illegaler Inhalte entstehen, die Gefahren für die Öffentlichkeit und den Einzelnen hervorrufen können. Solche audiovisuellen Inhalte werden auf unterschiedlichen Wegen verbreitet und durch die Digitalisierung werden die „Ausspielwege" vielfältiger, was zugleich eine intensivere Adressierung der Rezipienten mit sich bringt. Konkret geht es um Inhalte, die entweder allgemein oder für eine bestimmte Art der Verbreitung verboten sind. Dazu zählen etwa entwicklungsbeeinträchtigende Angebote, die ohne angemessene Schutzmechanismen Kindern und Jugendlichen vor allem online frei zugänglich gemacht werden, aufhetzende oder desinformierende Inhalte, die beispielsweise aus Drittstaaten kommend in manipulativer Absicht die demokratische Willensbildung und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in EU-Mitgliedstaaten bedrohen, oder zu Hass und Radikalisierung beitragende Inhalte, die aufgrund ihrer audiovisuellen Natur eine besonders tiefgreifende Wirkung entfalten können. Diese Phänomene gefährden in unterschiedlicher Weise Grundwerte der demokratisch verfassten EU-Mitgliedstaaten, deren gemeinsame Verfassungstraditionen und die Verankerung dieser Werte in den Verträgen der EU auch auf EU-Ebene einen Katalog zu schützender Prinzipien und Werte bilden. Dazu zählen insbesondere die Grundrechte, die von den Mitgliedstaaten aktiv vor Verletzungen bewahrt werden müssen. Wichtige Elemente sind insbesondere die Menschenwürde als überragendes Rechtsgut auch in der EU, der Schutz Minderjähriger, die Meinungs- und Informationsfreiheit ebenso wie die Medienfreiheit und der Medienpluralismus sowie die Privatsphäre der Individuen. Darüber hinaus sind es aber auch die Prinzipien der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die gegen Bedrohungen zu verteidigen sind. Aus Sicht der Unionsbürgerinnen und -bürger, die Rezipienten und Betroffene von audiovisuellen Inhalten sind, kommt es dabei nicht auf eine genaue Unterscheidung zwischen den verschiedenen Risiken an. Vielmehr geht es um das Bestehen einer insgesamt sicheren, freien und vielfältigen Medienlandschaft bzw. audiovisuellen Inhalte-Umgebung, die unabhängig vom Verbreitungsweg oder dem Verbreitenden von den Mitgliedstaaten gewährleistet wird.
Aus Sicht der Regulierung bzw. Rechtsdurchsetzung gegenüber solchen Phänomenen ist die Unterscheidung aber von Bedeutung für die Frage der Zuständigkeit, der Verhältnismäßigkeit von Reaktionsmechanismen und der Befugnisse der Regulierungsbehörden. Deshalb kommt es aus dieser Perspektive auf die Art des Inhalts, der Verbreitung und des Verbreiters an. Daher ist zur Bestandsaufnahme der bestehende und sich gerade weiter entwickelnde Rechtsrahmen näher zu beleuchten.
Der bestehende Rechtsrahmen und jüngste Anpassungen
Die EU verfügt über keine unmittelbare Kompetenz im Bereich des Medienrechts, insbesondere wegen der davon mit erfassten kulturellen Dimension. Vielmehr verblieb den Mitgliedstaaten in der Vergangenheit konsequenterweise ein breiter Gestaltungsspielraum zur Erreichung der in diesem Bereich besonders vom jeweiligen Verfassungsrahmen geprägten Politikziele. Die weitreichenden Zuständigkeiten der EU zur Regulierung des Binnenmarkts, in dem die Medien und auch andere auf audiovisuelle Inhalte gestützte Dienste als Wirtschaftsgut eine bedeutende Rolle einnehmen, führten aber schon in der Vergangenheit aufgrund der grenzüberschreitenden Dimension der Inhalteverbreitung und des Inhaltezugangs durch Rezipienten zu legislativen Aktivitäten der EU. Das Spannungsverhältnis aufgrund der Dualität als Wirtschafts- und Kulturgut bleibt bestehen, zumal die EU der Vielfalt ihrer Mitgliedstaaten verpflichtet ist und dabei die nationale Identität zu beachten hat. Die daraus folgenden Kompetenzabgrenzungen und Rechtsetzungsmöglichkeiten der EU im Mediensektor sind bereits in einer früheren Studie eingehend dargestellt worden. Demnach darf die EU-Binnenmarktregulierung mitgliedstaatliche Kulturpolitik nicht verdrängen und für die Schaffung von Rechtsklarheit ist eine deutliche Abgrenzung sowie zugleich Kohärenz zwischen den unterschiedlichen Ebenen und anwendbaren Regelungen besonders wichtig.
Die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste als Herzstück des „EU-Medienrechts"
Ein Beispiel für ein solches Bestreben um Kohärenz zwischen Wirtschafts- und Kulturregulierung ist das „Herzstück" der Regulierung audiovisueller Inhalte auf EU-Ebene: die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-RL), mit der eine Mindestharmonisierung zur Gewährleistung von grenzüberschreitend freiem Empfang und freier Verbreitung audiovisueller Dienstleistungen bei Aufrechterhaltung bedeutsamer mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielräume erreicht wird. Die AVMD-RL bietet bereits einen Lösungsansatz bezüglich einiger genannter Risiken, insbesondere beim Schutz Minderjähriger und der Allgemeinheit vor bestimmten Inhalten sowie bei der audiovisuellen kommerziellen Kommunikation. Sie adressiert die wichtigsten audiovisuellen Akteure, sowohl die unter redaktioneller Verantwortung agierenden Fernseh- und Video-on-Demand (VoD)-Anbieter als auch ¬ seit der letzten Anpassung der Richtlinie 2018 die die über ihre Dienste verbreiteten, audiovisuellen Inhalte organisierenden Video-Sharing-Plattform (VSP)-Anbieter. Grundsätzlich erfasst die Richtlinie damit unterschiedliche Verbreitungswege audiovisueller Inhalte, wobei manche Vorschriften sich nur auf bestimmte Arten der Distribution beziehen.
Bestehende EU-Plattformregulierung mit Relevanz Für den Audio-Visuellen Sektor
Aufgrund von Gesetzesinitiativen in den vergangenen Jahren als Bestandteile der als solcher proklamierten „digitalen Dekade", in der die Europäische Kommission (weiterhin) bestrebt ist, Europa „fit" für das digitale Zeitalter zu machen, ist die AVMD-RL aber nicht mehr das einzige relevante und spezifische Regelungsinstrument bezüglich audiovisueller Inhalte. Insbesondere die neuen Elemente einer umfassenderen Plattformregulierung sind relevant, weil entweder die schon von der AVMD-RL adressierten Akteure jedenfalls zum Teil selbst unter die unterschiedlichen Plattformbegriffe fallen oder weil diese Plattformen als Intermediäre erhebliche Bedeutung für die Distributions- und Wertschöpfungskette audiovisueller Inhalte haben. Zudem gelten die diese neuen Marktteilnehmer adressierenden Vorschriften für Anbieter, die mit den von der AVMD-RL erfassten Diensteanbietern im Wettbewerb um Zuschauer-und Werbemarktanteile stehen. Es ist vor allem der kürzlich in Kraft getretene und (bis auf manche vorab anwendbaren Vorschriften) im Februar 2024 vollumfänglich Anwendung findende Digital Services Act (Verordnung (EU) 2022/2065, DSA), der mit seinem abgestuften Pflichtenkatalog für Online-Plattformen mit umfangreicheren Auflagen für sehr große Online-Plattformen beim Umgang mit illegalen Inhalten, der Werbung und dem Jugendschutz von Bedeutung ist. Zudem gehören zu den relevanten Neuerungen der ebenfalls kürzlich in Kraft getretene und (teilweise früher und teilweise später, aber in weiten Teilen) im Mai 2023 anwendbare Digital Markets Act (Verordnung (EU) 2022/1925, DMA) mit einer Reihe von spezifischen Pflichten etwa zur Transparenz und Schnittstellenoffenheit für von Gatekeepern betriebene zentrale Plattformdienste, die u.a. Online-Suchmaschinen oder VSPs umfassen, sowie die Verordnung (EU) 2021/784 (TCO-Verordnung) zur Bekämpfung der Verbreitung (auch: audiovisueller) terroristischerOnline-Inhalte mit entsprechenden Pflichten für Hostingdiensteanbieter.
Der mögliche zukünftige Regelungsrahmen im Lichte aktueller Rechtsakt-Vorschläge
Weitere relevante Gesetzesvorhaben befinden sich noch im Legislativprozess, sind aber für den Kohärenzaspekt nicht minder relevant bezüglich des audiovisuellen Sektors und der Reaktion auf verschiedene Gefährdungslagen. Der Vorschlag für eine Verordnung zur Festlegung von Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellenMissbrauchs von Kindern (CSAM-Verordnung) addressiert Hostingdiensteanbieter ähnlich wie die TCO-Verordnung für einen ganz bestimmten Bereich von illegalen (auch: audiovisuellen) Inhalten mit Risikobewertungs- und Risikominderungspflichten, was bis zu proaktiven Aufdeckungspflichten auf Anordnung reichen würde. Demgegenüber bezieht sich der Vorschlag für eine Verordnung über die Transparenz und das Targeting politischer Werbung diensteunabhängig auf Pflichten bei der Verbreitung von politischer Werbung (online wie offline) und damit einen Bereich, der wegen Finanzierungs- und redaktionellen Gesichtspunkten für den Mediensektor unmittelbar relevant ist. Das gilt noch mehr für den Vorschlag für eine Verordnung zur Schaffung eines gemeinsamen Rahmens für Mediendienste im Binnenmarkt (Europäisches Medienfreiheitsgesetz/European Media Freedom Act, EMFA), der die AVMD-RL im institutionellen Bereich nicht nur ändern soll, sondern mit darüber hinausgehenden Rechten und Pflichten für Mediendiensteanbieter (und Rezipienten) deutliche Auswirkungen auf den Rechtsrahmen für die Verbreitung von audiovisuellen Inhalten haben würde.
Kohärenz der Rechts(durch)Setzung?
Diese bestehenden oder vorgeschlagenen Rechtsakte in Form von EU-weit unmittelbar geltenden Verordnungen weisen damit auch in unterschiedlichem Maße Überschneidungen zur AVMD-RL bzw. deren nationaler Umsetzung auf – auch in Bereichen, in denen die AVMD-RL den Mitgliedstaaten bewusst einen Gestaltungsspielraum belässt. So enthalten AVMD-RL und DSA sehr ähnliche (aber nicht gleich strenge) Pflichten für VSPs im Kontext von Kennzeichnungs- und Beschwerdemechanismen für Werbung und illegale Inhalte; der DMA enthält Pflichten zur Transparenz und Diskriminierungsfreiheit von Ranking-Systemen, während die AVMD-RL die Mitgliedstaaten zu Maßnahmen zur angemessenen Herausstellung audiovisueller Mediendienste von allgemeinem Interesse ermutigt; sowohl TCO-Verordnung als auch AVMD-RL verpflichten VSPs zum Ergreifen bestimmter angemessener Maßnahmen gegen die (öffentliche) Aufforderung zur Begehung einer terroristischen Straftat; Regeln zum umfassenden Schutz von redaktionellen Entscheidungen und deren Unabhängigkeit im EMFA könnten sich mit Rechtsdurchsetzungsmaßnahmen auf Basis der AVMD-RL überschneiden; und, in umgekehrter Richtung, könnte der Schutz (auch politischer) redaktioneller Inhalte nach der AVMD-RL Restriktionen aus dem Verordnungsvorschlag für politische Werbung überlagern. In der Regel enthalten die Rechtsakte mit Blick auf diese potentiellen Überschneidungen lediglich eine mehr oder minder klare „bleibt unberührt"-Regelung für das Verhältnis zur AVMD-RL.
Die Problematik möglicher Überschneidungen wird umso relevanter, da diese bestehenden oder vorgeschlagenen Rechtsakte regelmäßig ein eigenes institutionelles System zur Kontrolle und Rechtsdurchsetzung einführen oder sich auf ein vorhandenes stützen, das teilweise auf EU-Ebene bei der Europäischen Kommission angesiedelt ist und teilweise bei verschiedenen mitgliedstaatlichen Regulierungseinrichtungen. Dabei sind aber meist keine oder nur minimale intersektorale Kooperationsmechanismen mit bindender Wirkung enthalten. Das macht die Reaktion auf bestehende Gefährdungslagen, also die Rechtsdurchsetzung, komplex. Sie ist noch komplexer, wenn sie grenzüberschreitende Bezüge aufweist, wie es im Online-Bereich häufig und in zunehmendem Maße der Fall ist. Vor dem Hintergrund der beschriebenen (grundrechtlich) berechtigten Erwartungshaltung der Rezipienten in Bezug auf einen umfassend zu sichernden Medienkonsum muss es aber um die Schaffung eines regulatorischen Umfelds – auch im Mehrebenensystem zwischen der EU und den Mitgliedstaaten – gehen, in dem dieser Erwartungshaltung mit dem tatsächlich existierenden und umsetzbaren Handlungsrahmen entsprochen werden kann.
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