Das Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) hat neue Verbote für an Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung angekündigt, die über die geltenden Regelungen und Selbstregulierungen hinausgehen. Bundesgesundheitsminister Cem Özdemir will Kinder unter 14 Jahren vor sogenannten „Zuckerbomben", besser schützen und deshalb entsprechende Werbung verbieten. Dazu hat er einen Gesetzentwurf formuliert, der allerdings noch durch die Abstimmung mit den Bundesländern, den anderen Ressorts und vor allem mit den Koalitionspartnern muss. Heftige Kritik kommt von Verbänden der Medienwirtschaft. Der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) und der Medienverband der freien Presse (MVFP) fordern, dass zusätzliche staatliche Belastungen für die Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft unterbleiben sollen. Auch der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) hält die vorgestellten Eckpunkte für Werbeverbote im Lebensmittelsektor für „nicht geeignet, zu einer nachhaltigen Reduktion von Übergewicht bei Kindern beizutragen".
Der Medienverband der freien Presse (MVFP) und der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) erklären hierzu:
„Die Presse ist eine wesentliche Säule der freien Meinungsbildung und klärt in ihren gedruckten und digitalen Angeboten auf vielfältige Weise über gesunde Ernährung auf. Für die Finanzierung der Presse sind Werbeeinnahmen weiterhin unverzichtbar. Vor diesem Hintergrund sind Werbeverbote immer auch Einschränkungen der Pressefreiheit. Gerade in der heutigen Zeit, in der die vielfältige Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft mit historischen Herausforderungen konfrontiert ist, sollten zusätzliche staatliche Belastungen unterbleiben. Im weiteren Gesetzgebungsverfahren wird es daher darauf ankommen, dass die geplanten Beschränkungen Werbung in der gedruckten und digitalen Presse nicht behindern."
ZAW: Vielzahl gut belegter Einwände
Zugleich erklärte der Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft (ZAW) die vorgestellten Eckpunkte für Werbeverbote im Lebensmittelsektor für „nicht geeignet, zu einer nachhaltigen Reduktion von Übergewicht bei Kindern beizutragen". Die Agenda des BEML sei „einer Vielzahl gut belegter Einwände" ausgesetzt.
ZAW-Präsident Andreas F. Schubert bewertet die Eckpunkte wie folgt: „Das Ministerium arbeitet am falschen Ende. Noch in der letzten Woche wurde gegenüber dem ZAW, Verbänden der Lebensmittelwirtschaft und der Werbeträger/Medien vom BMEL bestätigt, dass dem Ministerium keine Wirksamkeitsstudien vorliegen, die einen positiven Einfluss von Werbeverboten auf das Ernährungsverhalten und eine Verringerung der Übergewichtsrate von Kindern belegen. Ungeachtet dessen, geht man heute weit über den Koalitionsvertrag hinaus. Die untaugliche Verbotspolitik nimmt in Kauf, die Refinanzierung von Medien und Sport weitgehend zu beschädigen und den Wettbewerb, darin eingeschlossen den Markterfolg von Innovationen, auszuschalten." Besonders kritikwürdig aus der Sicht des ZAW ist, dass das Ministerium nicht nur Reality-Checks und Folgeabschätzungen ausgeklammert, sondern seine Pläne schlichtweg irreführend beschrieben hat. Dies gilt im Hinblick auf die betroffenen Produkte wie auch unter dem Gesichtspunkt der erfassten Werbeformen und Kanäle.
Mit der WHO-Bezugnahme würden rund 80 Prozent der verarbeiteten Lebensmittel produktseitig erfasst. Die von der WHO 2015 in einem intransparenten Prozess erarbeiteten Nährwertprofile teilen das Lebensmittelangebot anhand einiger weniger Nährstoffe in vermeintlich „gute" (im wesentlichen unverarbeitetes Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte, Fleisch und Fisch) und „schlechte" (alle anderen) Lebensmittel ein und schließen von vorn herein – ohne Nährwertgrenze – ganze Produktgruppen per se von der Bewerbung aus.
Anders als verlautbart, ist das WHO-Verbotsmodell jedoch weder ein verbreiteter noch erfolgreicher Politikansatz:
Das WHO-Verbotsmodell ist nicht Bestandteil verbindlicher europäischer Regulierung und Gesetzgebung.
Es ist nicht Grundlage der Regulierung wie auch der Selbstregulierung zur Werbung in Österreich und Spanien.
In Portugal, dem einzigen Land, im dem es (modifiziert) herangezogen wird, liegt die Übergewichts- und Adipositasrate von Kindern doppelt so hoch wie in Deutschland. Ebenso ist die Lage in UK, wo knapp jedes dritte Kind betroffen ist – obwohl hier seit Jahren eine Verbotsregulierung gilt, die dem vorgestellten Ansatz des BMEL weitgehend entspricht.
Die Aussagen zu den erfassten Werbemaßnahmen bedeuten, anders als vom BMEL mitgeteilt, dabei ein nahezu geschlossenes generelles Werbe- und Sponsoringverbot. Trotz Berufung auf den Koalitionsvertrag will das BMEL in erster Linie nicht an Inhalte und Aussagen in der Werbung, die sich spezifisch an Kinder richten, anknüpfen.
Immer dann, wenn Produkte beworben werden, die eine bunte Aufmachung haben, soll das Verbot greifen.
Zudem ist geplant die Außenwerbung zu verbieten, wenn sie innerhalb einer Bannmeile von 100 Metern um Orte, an denen sich Kinder typischerweise aufhalten, installiert ist. Dies bezieht sich, wie mitgeteilt, auf alle Lebensmittel, die unter das WHO-Verbotsmodell fallen, also mindestens 80 Prozent aller Lebensmittel.
Nicht nur Medien, die sich an Kinder spezifisch richten, sollen als Werbeträger für die klare Mehrheit der Lebensmittel ausgeschlossen sein. Lebensmittel sollen im Fernsehen und Internet generell zwischen 6.00 und 23.00 Uhr nicht mehr beworben werden dürfen, wenn sie unter die WHO-Kriterien fallen. Davon betroffen sind ebenfalls mindestens 80 Prozent aller verarbeiteten Lebensmittel.
„Die Behauptung des BMEL, es gehe um zielgerichtete Vorschläge, ist irreführend. Tatsächlich ist eine massive Überregulierung geplant. Hierfür gibt es jedoch keine tragfähige Grundlage. Weder politisch, noch rechtlich und auch ernährungs- bzw. medienwissenschaftlich. Lebensmittel sind nicht per se gesund oder ungesund. Vielmehr finden alle Lebensmittel in einer ausgewogenen Ernährung ihren Platz. Werbeverbote gehen zudem an den lebenswirklichen Herausforderungen vorbei. Die Wirkung von Werbung im Hinblick auf den kategorialen Verzehr von Salz, Zucker und Fett wird vom BMEL verkannt. Werbung für Lebensmittel hat Einfluss auf die Marktanteile beworbener Produkte. Sie ist erwiesenermaßen aber nicht in der Lage, das Ernährungsverhalten von Kindern ungünstig in Richtung Übergewicht zu beherrschen. Heute wurde emotional angekündigt, evidenzbasierte Fakten sind dabei aber auf der Strecke geblieben", ergänzt Bernd Nauen, Hauptgeschäftsführer ZAW.
Die Gründe für kindliches Übergewicht sind tatsächlich multikausal und deshalb nicht monokausal mit Werbeverboten zu lösen. Zielführend sind ganzheitliche Ansätze, die den gesamten Lebensstil in den Blick nehmen, die Ernährungs- und Medienkompetenz stärken und dabei der deutlich gestiegenen Bewegungsarmut von Kindern Rechnung tragen – so auch aufgezeigt in der aktuellen WHO/OECD-Studie zur angewachsenen Bewegungsarmut in EU-Ländern. Die Vorschläge des BMEL schweigen hierzu. Auch mit Blick auf die besonderen Möglichkeiten des Staates bei der Gemeinschaftsverpflegung in Kitas und Schulen für eine bessere Ernährungsumgebung Sorge zu tragen und eine proaktive Ernährungsbildung aufzusetzen, bleibt es bei bloßen Ankündigungen. Dabei ist Übergewicht und Adipositas in sozio-ökonomisch benachteiligten Bevölkerungskreisen überproportional ausgeprägt. Mit Werbeverboten wird die Lebens- und Ernährungsrealität in benachteiligten Familien jedoch nicht nachhaltig verbessert, wie eine Vielzahl von public-health Analysen und die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen.
Der ZAW teilt die Zielsetzung, Übergewicht bei Kindern zu bekämpfen. Der besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern gilt es bei der Lebensmittelwerbung Rechnung zu tragen. Die Werbewirtschaft hat sich hierauf verpflichtet. Sie hat die Regeln in 2021 verschärft und setzt sie durch. Aussagen und Inhalte, die einer ausgewogenen Ernährung entgegenstehen, sind in der Lebensmittelwerbung gegenüber Kindern nicht zulässig.
Fakten und Evidenz zu Übergewicht und Werbeverboten:
Die Übergewichts- und Adipositasprävalanz in Deutschland liegt seit Jahren bei rund 15 Prozent. In anderen europäischen Ländern, die heute als wegweisend bei der Verbotsdebatte bezeichnet wurden, liegen sie weitaus höher, z.B. in UK, wo 1 von 3 Kindern übergewichtig oder adipös ist. Dies gilt auch für Portugal und Spanien.
Seit der zweiten maßgeblichen RKI-KIGGS-Studie in 2015 bis 2017 wurde ein Rückgang des gesamten Lebensmittelverzehrs und der mittleren Energiezufuhr bei Kindern in Deutschland beobachtet, wobei die geringere Energiezufuhr mit einem deutlich reduzierten Konsum von süßen Getränken begründet wird. Zudem seien im Vergleich zur KiGGS-Basiserhebung im Zeitraum 2003 bis 2006 die angegebenen konsumierten Mengen von Süßwaren erheblich gesunken, je nach Geschlecht und Altersgruppe zwischen 20 und 30 Prozent und jeweils statistisch signifikant. Zwischen den Studien nahm die ermittelte Energiezufuhr bei 6- bis 11-jährigen Mädchen etwa 9 Prozent, bei 6- bis 11-jährigen Jungen etwa 11 Prozent und bei Jugendlichen etwa 21 Prozent ab. Vorstehende Entwicklung erfolgte bei durchweg steigenden Werbeinvestitionen und Schaltungen in den 2000-er Jahren. Es besteht somit kein Zusammenhang zwischen kindlichem Übergewicht und Werbung.
Das generelle Bewegungsniveau der Kinder, wie Studien des RKI belegen, ist seit Jahren deutlich geringer geworden. Es wird erheblich mehr Zeit im Sitzen verbracht, was zu einem niedrigeren Energiebedarf führe. Die Hauptursachen für den Bewegungsmangel als wesentlicher Grund für einen durch Übergewicht hervorrufenden Energieüberschuss bei Kindern liegen nach public-health-Studien in folgenden Faktoren: Wesentlich ist die Umstellung des Schulsystems auf mehr Ganztagsschulen und die Einführung des Abiturs nach 12 Jahren in fast allen Bundesländern zwischen 2012 und 2015 wodurch viele Kinder und Jugendliche weniger Freizeit haben. Hinzu kommt die Nutzung digitaler Medien, der Rückgang beim Ehrenamt und Defizite beim Sportunterricht in den Schulen. Als bedeutsam werden auch Unzulänglichkeiten bei der Kita- und Schulverpflegung erkannt.
In der Corona-Pandemie ist die Werbemenge über alle Kanäle hinweg deutlich gesunken. Das kindliche Übergewicht hat hier aber nach allen Schätzungen zugenommen. Auch dies belegt eindrücklich, dass kein Zusammenhang zwischen der Ausbildung von Übergewicht und Werbung existiert.
In Ländern, in denen Werbeverbote bereits existieren, haben sich die Übergewichtszahlen nicht verändert. Sie liegen, wie etwa in UK, sogar deutlich über den Daten in Deutschland. Werbeverbote sind nachweislich nicht erfolgreich.
Die vom BMEL mitgeteilten Daten zur Werbemenge sind unzutreffend. Dies gilt insbesondere für die Behauptung, wonach „jedes Kind in Deutschland zwischen 3 und 13 Jahren pro Tag im Schnitt 15 Werbespots für ungesunde Lebensmittel schaue und 92 Prozent der gesamten Werbung, die Kinder wahrnehmen, Fast Food, Snacks oder Süßigkeiten vermarkte". Sie basieren auf methodisch nicht haltbaren Untersuchungen im Auftrag von Kampagnenorganisationen.
Tatsächlich sieht die Lage nach den Daten der AGF im Bereich TV wie folgt aus:
98 Prozent der Primetime-Zuschauer sind über 14 Jahre alt, unter 2 Prozent sind zwischen 3 und 13 Jahre alt – über 365 Tage im Jahr und alle Fernsehsender hinweg.
In den Jahren 2019 bis 2022 waren von den 100 Sendungen mit der höchsten Sehbeteiligung bei den 3- bis 13-Jährigen nur 27 Sendungen mit Werbung.
Bei Fußball-Länderspielen ist der Strukturanteil der 3- bis 13-Jährigen zuweilen höher, dann sitzen aber auch die Erwachsenen mit vor dem Bildschirm und Fußball ist auf ARD und ZDF ab 20 Uhr werbefrei.
Der Löwenanteil der Sendungen mit einer hohen Sehbeteiligung der 3- bis 13-Jährigen ist werbefrei – entweder laufen diese Sendungen auf dem grundsätzlich werbefreien Kika oder – wie Fußball – bei ARD und ZDF nach 20 Uhr.
Das gleiche gilt für die Online-Daten bzw. digitale Werbemenge, die Kinder wahrnehmen: Hier wird mit ergebnisorientierten Hochrechnungen und Datenquellen, die man nicht verrechnen kann gearbeitet. Konkrete Avatar-Messungen haben ergeben, dass lediglich 1.45 Prozent der Online-Werbung, die an Kinder ausgeliefert wird, für sogenannte HFFS-Produkte wirbt.
Die Tragfähigkeit von Werbeverboten setzt – nicht nur rechtlich betrachtet – eine Kausalbeziehung zwischen der Bewerbung von Lebensmitteln (mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt) gegenüber dem Konsum und der Ernährungsweise von Kindern in der Weise voraus, dass Kinder unter 14 Jahren gerade durch Werbeinhalte so beeinflusst werden, dass sie dadurch bedingt eine größere Menge der genannten Lebensmittelprodukte derart mittel bis langfristig verzehren, dass ihr Risiko für Übergewicht und Folgeerkrankungen signifikant steigt. Hierzu gibt es keine überzeugenden Befunde.
In den fachwissenschaftlichen Studien zu den Auswirkungen von Werbung und Werbeverboten auf das Konsumentenverhalten wird eine Einflussnahmemöglichkeit von Werbung im Hinblick auf Markenwiedererkennung und -image grundsätzlich anerkannt. Allerdings bewirkt dies nach den Befunden grundsätzlich keinen Mehrkonsum. Bei reifen und gesättigten Produktkategorien, wie beispielsweise Süßigkeiten, konnte kein Kategorie-Mehrkonsum festgestellt werden, der durch Werbung ausgelöst wurde. In gesättigten Märkten ist vielmehr der primäre Effekt, bestehende Marktanteile zu verteidigen und Konsumenten von Konkurrenzmarken abzuwerben. Entsprechend lassen sich auch keine Rückschlüsse eines etwaigen Mehrkonsums bei Steigerung der Werbeausgaben aus Vergleichsuntersuchungen z.B. zu Süßwarenwerbeausgaben und Süßwarenkonsum schließen. Das entspricht den Daten zu Werbeinvestitionen in Deutschland seit den 2000er Jahren und den Veränderungen in Corona.
Deshalb konnte auch das Max-Rubner-Institut keine Wirksamkeitsnachweise für Werbeverbote in EU-Ländern, wo sie bestehen, entdecken. Der Auftraggeber ist das BMEL, eine Veröffentlichung der Untersuchung ist jedoch nicht vorgesehen. Das ist natürlich kritisch, weil so evidenzbasierte Politik ausgebremst wird. Auf Anfrage musste das BMEL diesen Befund aber zugeben (s. https://dserver.bundestag.de/btd/20/049/2004970.pdf , s. S. 60).
Die Ursachen von Übergewicht, Adipositas und ungünstiger Ernährungsweise, die gut belegt sind, lauten hingegen: (1.) Bewegungsmangel, z.B. aufgrund veränderter Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen (Ganztagsschulen, Auflösung tradierter Familienverbünde und Arbeitsbedingungen) (2.) Rahmenbedingungen der Mahlzeiteneinnahme (gemeinsame Familienmahlzeiten, Schulspeisung), (3.) sozialökonomischer Status und Bildungsgrad sowie (4.) Adaption von Verhaltensweisen im engen sozialen Umfeld und enge physiognomische Korrelationen im Familienkreis.
Alle Studien weisen auf eine erhebliche Bedeutung des Faktors des sozialökonomischen Status (SES) der untersuchten Personengruppen hin. Kinder und Jugendliche mit niedrigem SES weisen im Vergleich zu Mädchen und Jungen mit mittlerem und hohem SES eine deutlich höhere Prävalenz für Übergewicht auf. Beispielweise konsumieren 6- bis 11-jährigen Mädchen und Jungen mit hohem SES im Mittel signifikant ausgewogener als die Vergleichsgruppe in sozial benachteiligten und bildungsferneren Milieus. Hier weist das gesamte Ernährungsverhalten ungünstigere Muster auf. Und die Bewegungsarmut ist besonders ausgeprägt. Werbeverbote ändern aber an den sozialen Umständen nichts, denn die Faktoren, die ein ungünstiges Ernährungsverhalten und Bewegungsarmut hervorrufen sind nicht kommunikativ vermittelt, sondern sind eng verknüpft mit Sozialstatus, Bildung, Wohnort, Aufenthaltsstatus der Familien und Freunde. Das ist gesicherter Stand der Wissenschaft.