Nicht nur in Politik und Justiz besteht anscheinend großer Nachholbedarf im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt, auch die journalistische Praxis offenbart Leerstellen: Eine strukturelle Auseinandersetzung mit der Alltäglichkeit und Vielschichtigkeit von Gewalt gegen Frauen finde in der deutschsprachigen Berichterstattung nur sehr selten statt. Es dominierten Berichte, die Gewalttaten als isolierte Einzelfälle beschrieben und sich meist auf Tötungsdelikte fokussierten, andere Gewaltformen kämen in der medialen Realität zu wenig vor. Im Kontext Partnerschaftsgewalt komme in nur zehn Prozent der Berichte die Perspektive der Opfer zur Sprache, während 50 Prozent der Beiträge ihre Aufmerksamkeit auf den Täter richte. Das sind zentrale Ergebnisse des Trendreports „‚Tragische Einzelfälle?“, den die Otto Brenner Stiftung (OBS) veröffentlicht hat.
Allgemeiner Kontext zur Studie
Gewalt gegen Frauen ist ein gravierendes gesellschaftliches Problem, das weit über individuelle Einzelschicksale hinausgeht. Die Istanbul-Konvention erkennt Gewalt gegen Frauen ausdrücklich als Menschenrechtsverletzung an und verpflichtet auch Deutschland, das die Konvention 2017 ratifizierte, umfassende Maßnahmen zum Schutz von Frauen zu ergreifen. Aktuelle Statistiken zeigen, dass in Deutschland jeden Tag mehr als 140 Frauen sexualisierte Gewalt erleben, alle drei Minuten eine Frau von häuslicher Gewalt betroffen ist und nahezu täglich eine Frau Opfer eines Femizids wird. Die öffentliche Wahrnehmung dieser Gewalt und die gesellschaftliche Dringlichkeit, Maßnahmen dagegen zu ergreifen, wird maßgeblich mitgeprägt durch die mediale Berichterstattung. Medien sind nicht nur wichtige Informationsquellen, sondern setzen durch ihre Berichterstattung auch politische Themen. Die mediale Darstellung kann somit entscheidend sein, um den Schutz vor Gewalt gegen Frauen in den gesellschaftlichen Fokus zu rücken und politischen Druck für die Umsetzung konkreter Maßnahmen auszuüben. Medieninhalte können zusätzlich über Gewaltformen und deren Ausmaß informieren, Hilfsangebote teilen und somit eine wichtige Informationsquelle für Betroffene von Gewalt und deren Angehörige sein. Diese Studie, die an die Vorgängerstudie „Tragische Einzelfälle?“ aus dem Jahr 2021 anknüpft, untersucht die Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen in deutschen Print- und Onlinemedien
Ergebnisse der Untersuchung
Die Untersuchung der Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen zeigt eine deutliche Fokussierung auf extreme Einzelfälle. Tötungsdelikte stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit, während häufigere Gewaltformen wie Körperverletzung und Bedrohung im Verhältnis zu ihrem tatsächlichen Vorkommen stark unterrepräsentiert bleiben. Sexualisierte Gewalt wird hauptsächlich dann thematisiert, wenn sie tödlich endet, obwohl solche Fälle nur einen kleinen Teil der polizeilich registrierten Vorfälle ausmachen. Diese Konzentration auf spektakuläre Delikte lässt alltägliche Formen von Gewalt, denen Frauen deutlich häufiger ausgesetzt sind, weitgehend unberücksichtigt und verdeckt das tatsächliche Ausmaß des Problems.
Auch bei Gewalt in Paarbeziehungen konzentriert sich die Berichterstattung überwiegend auf die letzten Eskalationsstufen, vor allem auf Tötungsdelikte. Zwar wird im Vergleich zu 2015 bis 2019 etwas weniger über Tötungsdelikte und mehr über Körperverletzung berichtet – was eine Annäherung an die realen Verhältnisse von Gewalt gegen Frauen zeigt. Dennoch bleibt der mediale Fokus auf Tötungsdelikte überproportional hoch. Frühere Gewaltformen, wie psychische und finanzielle Kontrolle, die den extremeren Übergriffen vorausgehen, werden hingegen kaum thematisiert. Medial wird so der Eindruck vermittelt, dass diese Taten plötzlich oder „aus heiterem Himmel“ geschehen, obwohl in den meisten Fällen eine lange Vorgeschichte von Kontrolle und Missbrauch sowie eine schrittweise Eskalation vorliegt. Die Verwendung verharmlosender Begriffe wie „Eifersuchtsdrama“ und „Familiendrama“ hat im Vergleich zur ersten Erhebung leicht zugenommen. Da wo sie weiterhin genutzt werden, vermitteln sie ebenfalls das Bild plötzlicher Affekttaten und verdecken die strukturellen Dynamiken, die Partnerschaftsgewalt zu Grunde liegen. Demgegenüber findet die Bezeichnung „Femizid“ langsam Eingang in die deutsche Presselandschaft – wenn auch vor allem in überregionalen Zeitungen.
Wie in der Erhebung der Jahre 2015 bis 2019 zeigt sich auch in dieser Studie: Die überwiegende Mehrheit der Artikel verbleibt auf der Ebene reiner Einzelfallbeschreibung. Eine tiefere thematische Einordnung, die strukturelle Gründe für Gewalt gegen Frauen aufzeigt oder präventive Maßnahmen und Lösungsansätze thematisiert, findet kaum statt. Die Darstellung der Taten als isolierte Einzelfälle trägt zur Wahrnehmung von Gewalt gegen Frauen als individuelle Tragödie statt als gesellschaftliches Problem bei. Auch wird die Perspektive der Opfer nur in etwa zehn Prozent der Artikel eingenommen, während fast die Hälfte der Berichte den Fokus auf den Täter legt. Besonders bei Partnerschaftsgewalt stehen häufig die vermeintlichen „Motive“ des Täters im Vordergrund, während die strukturellen Ursachen der Gewalt und die Konsequenzen für die Opfer nur selten zur Sprache kommen. Im Vergleich zu den Berichtsjahren 2015 bis 2019 hat diese Nennung von Motiven im Kontext partnerschaftlicher Gewalt sogar zugenommen. Hingegen werden nur in rund zwei Prozent der Artikel Hinweise auf Hilfsangebote wie Notrufnummern oder Beratungsstellen für Betroffene veröffentlicht, was den Zugang zu Unterstützungsangeboten durch die Medien erschwert.
Ein deutlicher Unterschied zeigt sich bei der medialen Darstellung deutscher und nichtdeutscher Tatverdächtiger. Gewalttaten nichtdeutscher Täter werden häufiger als strukturelles und wiederkehrendes Problem behandelt, während deutsche Tatverdächtige tendenziell als Einzelfälle dargestellt werden. Diese Form der Berichterstattung kann stereotype Vorstellungen über Gewaltursachen und Tätergruppen verstärken. Zwar ist die Nationalität der Tatverdächtigen bei Gewaltdelikten gegen Frauen in der Realität nicht überrepräsentiert, sie wird jedoch in den Medien überproportional oft genannt, was zu einer Kulturalisierung des Problems beiträgt.
Fazit
Die Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen in deutschen Medien bleibt selektiv und konzentriert sich auf extreme Einzelfälle wie Tötungsdelikte, während alltägliche Gewaltformen und frühe Eskalationsstufen kaum thematisiert werden. Zudem beschränken sich die meisten Artikel auf isolierte Einzelfallbeschreibungen, ohne strukturelle Ursachen oder präventive Ansätze aufzuzeigen. Diese Form der Darstellung erschwert es, die gesellschaftliche Dimension von Gewalt gegen Frauen sichtbar zu machen und ein umfassendes Verständnis für die Hintergründe sowie Eskalationsdynamiken zu fördern. Verglichen mit der vorherigen Erhebung der Berichterstattung in den Jahren 2015 bis 2019 bewegen sich die Tendenzen leicht in die richtige Richtung, grundlegend hat sich an der Berichterstattung jedoch wenig verändert. Gleichwohl seit Jahren zahlreiche Empfehlungen und Leitfäden vorliegen, finden Verbesserungen im Sinne einer würdigen Berichterstattung nur langsam statt. Somit besteht weiter erheblicher Bedarf an einer differenzierteren Berichterstattung, die das Thema als gesamtgesellschaftliches Problem anerkennt und die für die Perspektiven der Betroffenen sensibilisiert ist.
https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AP74_Gewalt_gegen_Frauen_WEB.pdf