Im Wettlauf gegen die Zeit

17. Dezember 2024
Stärkung der digitalen Meinungsfreiheit - ein Porträt der NGO „HateAid“

Von Karla Kallenbach Journalistikstudentin an der TU Dortmund

Jeden Tag werden Menschen Betroffene von digitaler Gewalt, vor allem Hass im Netz. So wurde fast die Hälfte aller Personen in Deutschland online beleidigt. Fast 90 Prozent sind überdies der Ansicht, dass Hassrede im Internet stark zugenommen hat – so eine repräsentative Befragung des Kompetenznetzwerks gegen Hass im Netz aus Jahr 2023. Hier möchte HateAid helfen. Die Nichtregierungsorganisation setzt sich für Menschenrechte im digitalen Raum ein. Sie kämpft für ein Internet, das Meinungs- und Teilhabefreiheit gewährleistet.

Über 5.000 Betroffene hat HateAid mit Beratung und Prozesskostenfinanzierung bereits unterstützt – darunter überwiegend Privatpersonen, aber auch Personen des öffentlichen Lebens wie die Klima-Aktivistin Luisa Neubauer und die Grünen-Politikerin Renate Künast. Ein wichtiger Fokus der Organisation liegt zudem auf der Sensibilisierung von Politik und Gesellschaft für die Gefahren von Hassrede. Mittels Kampagnen und Öffentlichkeitsarbeit möchte HateAid ermutigen, sich für eine demokratische Gesellschaft einzusetzen. Darüber hinaus arbeitet die Organisation an Lösungen zur Stärkung demokratischer Werte im digitalen Raum, zum Beispiel durch Vorschläge für Gesetzesänderungen.

Schlüsselmomente zeigten: Digitale Gewalt stört Meinungsfreiheit

Für das Gründungsteam von HateAid seien persönlichezwei Erlebnisse zentral gewesen, erzählt Ines Kirchner, Head of Marketing and Communications bei der Organisation. Ins Leben gerufen wurde HateAid im Jahr 2018 von den NGOs Campact und Fearless Democracy zusammen mit Anna-Lena von Hodenberg. Von Hodenberg, heute Geschäftsführerin von HateAid, wurde durch ihre damalige Arbeit bei Campact darauf aufmerksam, wie die rechtsextreme Szene den digitalen Raum strategisch nutzte. Zur gleichen Zeit wurde ein Mitgründer von HateAid, der für eine Marketingagentur arbeitete, Ziel einer Hasskampagne im Netz, nachdem er online politisch und gesellschaftlich Stellung genommen hatte.

Als sich durch diese Erlebnisse die mangelnde Unterstützung für Betroffene digitaler Gewalt und die damit zusammenhängenden Gefahren für die Meinungsfreiheit zeigten, entstand die Idee, HateAid zu gründen. Im Jahr 2019 fand schließlich eine Pressekonferenz statt, mit der HateAid offiziell bekanntgegeben wurde. Heute hat die NGO, die ohne ehrenamtliche Arbeit oder Mitglieder aufgebaut ist, bereits über 50 Mitarbeitende. Josefine Ballon, die als Head of Legal bei HateAid begann, wurde im September 2023 zweite Geschäftsführerin der Organisation.

Hürdenlauf für Betroffene von digitaler Gewalt

Seit der Gründung von HateAid stand die Betroffenenberatung lange Zeit im Fokus der Organisation. Hier können sich Opfer von Hate Speech im Netz, die selbst keine digitale Gewalt verbreiten, an HateAid wenden. Die Organisation bietet den Betroffenen zunächst emotionale Unterstützung. Weiter berät sie zu Themen wie Kommunikation und IT-Sicherheit. In ausgewählten Fällen hilft HateAid ihnen durch Prozesskostenfinanzierung dabei, ihre Rechtsansprüche durchzusetzen. In solchen Fällen übernimmt HateAid das Kostenrisiko, das mit einem Rechtsstreit verbunden ist. Im Gegenzug verpflichten sich die Betroffenen, eine eventuelle Geldentschädigung an HateAid weiterzugeben, um weitere Fälle zu finanzieren. Die Finanzierung der Prozesskosten wird allerdings durch weitere Zuschüsse und Spenden unterstützt, da sich die Verfahrenskosten sonst nicht tragen ließen.

Die langen Verfahren und hohen Kosten sind jedoch nur zwei der Hürden, mit denen sich Betroffene digitaler Gewalt konfrontiert sehen. Komplikationen innerhalb der Verfahren – etwa die Tätersuche – erschweren die Situation für Opfer. Außerdem müsse sich das Recht auch mit vielen neuen Fragen auseinandersetzen, zum Beispiel zu den Bereichen KI oder Deepfakes, sagt Kirchner. Hinzu komme eine gewisse Ignoranz der Behörden. Über die vergangenen Jahre sei das zwar besser geworden, doch Sätze wie „Das ist doch nur im Internet“ oder „Da kann man eh nichts machen“ höre man leider nach wie vor.

Weiterentwicklung zur Menschenrechtsorganisation

Die Arbeit von HateAid beruht auch heute noch auf der Beratung und den Erfahrungen mit Betroffenen. Im Laufe der Jahre hat sich die NGO jedoch immer mehr zu einer Art Menschenrechtsorganisation entwickelt. Denn HateAid hat auch politische Arbeit und große Kampagnen gestartet – ab 2020 zudem auf europäischer Ebene in Brüssel. Dort hat HateAid aktiv das Rechtssetzungsverfahren zum Digital Services Act begleitet. Die Organisation beobachtet nun seine Anwendung in der Praxis, reicht Beschwerden ein und beabsichtigt, in Zukunft weitere Verbesserungsvorschläge einzubringen, wie etwa verbesserte Kooperationen zwischen Plattformen und Behörden. „Wir schauen, wie wir auch systemisch etwas verändern können, damit es hoffentlich irgendwann weniger Betroffene von digitaler Gewalt gibt“, erklärt Kirchner. „Dabei müssen auch die Plattformen mehr tun. Meta, TikTok und Co. können uns allen super individualisierte Werbung ausspielen. Aber sie schaffen es angeblich nicht, einen Content, der immer gleich ist, zu löschen, sobald er auftaucht.“

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

In ihrer Mission sind die Mitarbeitenden von HateAid schon lange nicht mehr allein. Seit 2019 kooperiert die NGO mit der ZIT, der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität. Gemeinsam wurde beispielsweise die App MeldeHelden entwickelt, in der alle Formen von digitaler Gewalt direkt weitergegeben werden können und die zurzeit optimiert wird. HateAid arbeitet auch mit spezialisierten Beratungsstellen, weiteren NGOs (wie auch im Kompetenznetzwerk gegen Hass im Netz) oder dem Deutschen Juristinnenbund zusammen. Für Medienunternehmen fungiert HateAid als Expertin zu allen Themen rund um Menschenrechte im Netz und digitaler Gewalt. Außerdem bietet HateAid Workshops an, unter anderem zu Themen wie Community-Management und dem Umgang mit digitaler Gewalt.

Im Marketingbereich kooperiert HateAid unter anderem mit Medienpartnern, zudem auch mit einem großen Außenwerber, der die Kampagne #UnserInternet unterstützte. Ziel der Kampagne war es, die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, dass auch im Internet Menschenrechte bestehen und es sich lohnt, für ebendiese einzustehen. Verschiedene Slogans wie „Du hast das Recht, dass dich Gesetze auch online schützen“ wurden dafür entwickelt. Zudem wurde ein offener Brief an den Bundeskanzler veröffentlicht.

Polarisierung und Finanzierung als große Herausforderungen

Obwohl in den letzten Jahren zahlreiche positive Entwicklungen stattgefunden haben, sieht Kirchner auch große Herausforderungen. Eine der größten Gefahren sei die ansteigende Polarisierung im Netz. Mittlerweile gebe es kaum ein Thema, für das sich Menschen aktivistisch oder politisch einsetzen könnten, ohne dass sie angefeindet würden. Für HateAid bedeutet dies einen Wettlauf gegen fortschreitende Verrohungen digitaler Kommunikation – bis hin zu dem Punkt, an dem sich endgültig nicht mehr geäußert wird.

Die größte Herausforderung auf Organisationsebene sei es, eine langfristige und nachhaltige Finanzierung sicherzustellen. Öffentliche Förderungen spielen dabei eine wichtige Rolle und finanzieren fast die gesamte Betroffenenberatung. Private Förderungen tragen ebenfalls zum Finanzierungsmix bei, während Spenden nur einen kleinen Teil ausmachen. Gerade öffentliche Förderungen seien mit viel Unsicherheit behaftet, erzählt Kirchner. Tatsächlich war erst im vergangenen Jahr unklar, ob HateAid weiterhin vom Bundesministerium der Justiz gefördert wird. Die Förderung wurde schließlich bewilligt, allerdings nur für ein Jahr. Auch der Regierungswechsel stellte die gemeinnützige Organisation vor Herausforderungen. Für eine NGO in der Größe HateAids könnten ausbleibende Förderungen direkt bedeuten, dass Mitarbeitende entlassen werden müssten, erklärt Kirchner. „Wir sind immer noch eine kleine NGO, gerade angesichts von großen Plattformen wie Meta. Wir würden lieber unsere Wirkungsarbeit intensivieren oder unseren Finanzierungsmix diversifizieren, anstatt mit immer wieder dafür zu sorgen, dass unsere Existenz nicht gefährdet ist.“

Pläne für mehr Schutz

2024 lag ein besonderes Augenmerk von HateAid auf dem Gesetz gegen digitale Gewalt, das wohl dem vorzeitigen Aus der Ampel-Regierung zum Opfer gefallen ist. Hier setzte sich die Organisation unter anderem dafür ein, dass Betroffene vor Gericht leichteren Zugang zur Identität ihrer Täter erhalten. Außerdem sei HateAid aktiv, um Menschen in der Politik dabei zu unterstützen, sich gegen digitale Gewalt und Desinformation zu behaupten, sagt Kirchner. Bereits im Prozess mit der Politikerin Renate Künast habe HateAid klargestellt: Politikerinnen und Politiker haben ein Recht auf den Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte – auch im Internet.

Zur Autorin:

Karla Kallenbach studiert Journalistik an der TU Dortmund und volontierte beim Hessischen Rundfunk. Neben dem Studium arbeitet sie als crossmediale Journalistin für den WDR.

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